Die Schriftstellerin und Essayistin Asal Dardan spricht mit Jonas Dahm über ihr neues Buch Traumaland. Eine Spurensuche in deutscher Vergangenheit und Gegenwart. Asal Dardans Spurensuche führt uns durch deutsche Städte, macht Orte und Kontinuitäten politischer Gewalt sichtbar, erkundet Erinnerungskultur und fragt, wie sie lebendig bleiben kann. Ein Gespräch über die Topografie des Erinnerns, verdrängte Geschichten und die Gegenwart des Gedenkens.
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Jonas Dahm:
Asal Dardan ist Schriftstellerin und Essayistin. Sie schreibt unter anderem für Die Zeit, die FAZ oder die Berliner Zeitung. 2021 erschien ihre Essaysammlung Betrachtungen einer Barbarin – ein Buch über Identität und Rassismus, aufmerksam, konzentriert, durchaus angriffslustige geschrieben. Dieses Jahr, 2025, ist ihr neues Buch erschienen: Traumaland Eine Spurensuche in deutscher Vergangenheit und Gegenwart.
Asal Dardan:
Hallo Jonas. Du beginnst Traumaland mit Spaziergängen durch dein Berliner Viertel, also mit Häusern, Stolpersteinen, Nachbarschaften. Gab es einen Moment oder eine Beobachtung, wo du für dich angefangen hast, an diesem Buch zu arbeiten?
Asal Dardan:
Ja, es gab so mehrere Punkte, die mich zu diesem Buch gebracht haben, mehrere Erlebnisse und Gedanken. Der wichtigste war tatsächlich, als ich ein Jahr nach dem rechtsterroristischen Anschlag in Hanau aus dem Zug stieg in Hanau, weil ich zur Gedenkdemo gefahren bin, um meine Solidarität zu zeigen und einfach da mit vor Ort zu sein – und aus dem Zug stieg und dachte, wow, Hanau ist ja voll gewöhnlich, eine gewöhnliche Stadt. Dann fiel mir irgendwie auf, dass ich so viele Städtenamen eigentlich nur kenne, weil ich sie verbinde mit einem rassistischen Anschlag, so wie Mölln und Solingen zählte dann auch Hanau dazu, eine Stadt, die ich vorher nicht kannte, weil ich nicht aus der Frankfurter Region komme. Irgendwie fand ich das erstaunlich, dass man so eine Landkarte entwerfen kann von Deutschland, die eben solche Punkte markiert – und es sind gar nicht so wenige. Vor kurzem ist auf Instagram tatsächlich von einer antifaschistischen Vereinigung so eine Karte durch Instagram gegeistert, die genau diese Punkte markiert hat, statt Städtenamen eben die Namen der Ermordeten. Ich finde schon, dass das eine ziemlich deutsche Landkarte ist, die man da entwerfen kann. Das war so ein Moment, wo ich dachte: Das ist so eine Landkarte, die manche Leute im Kopf haben und andere nicht, die in diesem Land leben – und vielleicht wäre es ganz gut, die mal nachzuzeichnen und anzubieten als Karte. Ein anderer Moment war, den beschreibe ich auch im Buch, da saß ich bei einem Abendessen mit FreundInnen, auch alles AutorInnen. Und ich habe denen so erzählt von dieser Idee oder von dieser Reise nach Hanau und dass ich überlege, mir bestimmte deutsche Städte auszusuchen, anhand derer ich das versuche zu illustrieren, von Orten auszugehen und nicht nur zeitlich über politische Gewalt in dem Land zu sprechen. Ich habe dann unter anderem Dessau erwähnt. In dem Gespräch haben wir dann erst kurz, so ein paar Minuten später erst, gemerkt, dass alle am Tisch an das Bauhaus denken und ich habe an Oury Jalloh und Alberto Adriano. Ich habe mich irgendwie so geschämt und gedacht – ah ja klar, das Bauhaus, darüber musst du dir auch Gedanken machen, wenn du über Dessau schreiben willst – weil Dessau die zweite große Bauhausstadt war, wo die Schule dann auch verboten wurde. Die anderen wussten natürlich auch von Oury Jalloh, aber mussten erst daran erinnert werden und ich hatte das Gefühl, beides ist legitim und beides ist dieses Land oder trifft den Kern von dessen, was politische Gewalt in diesem Land bedeutet und macht auch die Kontinuität sichtbar – und wie wäre es, wenn man diese Landkarten, die wir unterschiedlich in unseren Köpfen tragen, übereinanderlegen. Eva von Redeke hat bei meiner Buchpremiere das so schön eine Mehrfachbelichtung genannt. Das ist der Versuch, den ich in diesem Buch mache.
Jonas Dahm:
Ich würde auf diesen Versuch gleich gerne noch weiter eingehen, gerade diese topografische Spurensuche, die du machst. Du hast gerade schon mal angesprochen, da ging es jetzt gerade um Hanau, dass du da ausgestiegen bist und dachtest, das ist einganz gewöhnlicher Ort – und du schreibst im Buch diesen schönen Satz über Dessau, also ein Ort, den du auch als KZ-Stadt, als Zwangsarbeiterstadt, als den Ort, wo Oury Jalloh in einer Polizeizelle verbrannt wurde, beschreibst. Da schreibst du den Satz: Dessau ist kein magischer Ort. Den fand ich ganz stark und wollte dich nochmal fragen, warum schreibst du das auf diese poetische Weise? Was meinst du damit?
Asal Dardan:
Ich glaube, wenn man sich überlegt, dass an einem Ort Menschen ermordet wurden, dann steht man davor und denkt, irgendeine Kraft, irgendwas muss doch davon ausgehen. Es ist auch eine intellektuelle, auch eine emotionale Überforderung an so einem Ort zu stehen und zu fragen, was fange ich jetzt hier damit an? Ein Ort strahlt nicht sofort aus was er bedeutet, moralisch, historisch, politisch, sondern wir müssen diesen Ort markieren und mit ihm arbeiten und auch sichtbar machen, wofür er steht. Ein gutes Beispiel sind die Stolpersteine, die das versuchen. Ich wohne in Schöneberg und das ist ein Viertel gewesen, das sehr stark geprägt war von bürgerlichen jüdischen Familien und Menschen, die dort lebten. Dieses Leben ist ausgelöscht worden an diesem Ort, aber was spürt man davon? Sichtbar zu machen, was für eine Gewalt dort geschehen ist, wie Leute aus solchen Wohnungen rausgezogen wurden, das erreicht man bis zu einem gewissen Grad zum Beispiel mit diesen Stolpersteinen. Ich hatte diese Vorstellung, gerade wenn ich in so Städte fahre, die ich leider nur durch diese politische Gewalt kenne: Diese innere es bedeutet mir etwas oder es muss mir etwas bedeuten – aber was davon spüre ich an diesem Ort? Das ist das, was ich versucht habe zu konfrontieren, um dann zu merken: Der Ort selber transportiert nichts.
Jonas Dahm:
Eine Station deiner topografischen Spurensuche, die ist Köln, also die Stadt, in der du mit deinen Eltern nach dem Exil aus dem Iran gelebt hast, wo du aufgewachsen bist. Köln ist Traumaland, Ort von NS, auch von NSU-Terror und es ist ja auch deine Kindheitsstadt. Legt sich diese Topografie, die du im Buch erarbeitest, über diese Bilder und Erinnerungen deiner Kindheit, wie steht das im Verhältnis?
Asal Dardan:
Also ich beschreibe ja in dem Buch, wie wir immer in die Weidengasse gefahren sind, weil in der Weidengasse einige türkische, arabische, iranische Geschäfte sind – um eben die Lebensmittel zu kaufen, die wir so brauchen für das Essen, das wir kochen. Die Weidengasse ist ähnlich wie die Keupstraße, in der der Nagelbombenanschlag des NSU war, eben eine migrantisch geprägte Straße, die unser Leben markiert in dieser Stadt und selbstverständlich ist dieser Nagelbombenanschlag und auch die Art und Weise, wie dann die Stadtgesellschaft damit umgegangen ist, etwas, was die eigene Position in dieser Stadt trifft und berührt. Also, mit welcher Selbstverständlichkeit zähle ich mich zu der Stadtgesellschaft? Mit welcher Selbstverständlichkeit gehe ich durch diese Straßen und andere Straßen? Wie sehr werde ich zur anderen gemacht in diesen Straßen? Wie sehr ist ein bestimmtes Leben exponiert und angreifbar und verletzbar und auch abstrahierbar in einem Stadtgefüge – und auch natürlich politisch instrumentalisierbar? Also ich zitiere ja einen Artikel, der in der Zeit erschien, kurz nach dem 7. Oktober, wo ein Journalist meinte, dass das arabisch geprägte Köln zu besuchen und aufzusuchen irgendwie Sinn ergeben würde. Ja, und die rassistischen Tropen und der rassistische Blick auf die Bevölkerung und die Menschen, die dort leben und diese Stadt und diese Straßen prägen, das hat mich schon sehr mitgenommen. Und natürlich beeinflusst das die Art und Weise, wie du dich selbst in einer Gesellschaft verortest oder wahrnimmst oder dich auch gesehen fühlst.
Jonas Dahm:
Du schaust dir im Buch ja auch verschiedene konkrete Formen des Erinnerns an und entwickelst, finde ich, eine recht pointierte Kritik und schreibst diesen Satz, dass sich in bestimmten Formen von Gedenken so ein wohliger Schauer ergibt. Das finde ich ein gutes Bild. Kannst du das nochmal ausführen? Wo siehst du diesen Schauer, wann kommt der Schauer und wann kommt er eben nicht?
Asal Dardan:
Ja genau, der Wohlige Schauer, der kommt tatsächlich von meiner Schriftstellerkollegin und Freundin Nava Ebrahimi. Das ist der Moment, wo ich mich frage, wie kann man das Erinnern so als Praxis begreifen, dass es nicht identitätsstiftend ist. Ich glaube, dass tatsächlich politisches Erinnern oder Erinnern an politische Gewalt und an Vergangenheiten – sobald sich daraus etwas ableiten lässt, das sozusagen stabilisiert, also das Selbstbild stabilisiert, Identität stiftet und wieder erlaubt, dass man stolz auf sich ist, als Nation oder als wir oder als nationales Gebilde oder was auch immer oder als Regierung oder Bundeskanzler – dann hebt man im Grunde das auf, wofür man es macht. Um das weniger abstrakt zu sagen: Ich glaube, dass sich keine positive Identität für Deutschland ableiten lassen sollte aus dem Erinnern an die Shoah, an den Holocaust, an frühere Verbrechen. Vor allem nicht, weil für mich Erinnern und Gedenken eine Praxis sein muss und auch sich widerspiegeln muss in aktueller Politik und in aktuellen Handlungen. Daran misst sich, glaube ich, der Wert von Erinnern. Also nicht darin, wie schön unsere Gedenktage veranstaltet werden oder wie viel Geld oder auch Mühe wir in Mahnmale und Denkmäler legen. Ich finde, das sind alles Errungenschaften und ich will das überhaupt nicht kleinreden. Ich finde, vieles an der institutionalisierten Gedenkkultur und Erinnerungskultur, die wir in Deutschland haben, das sind Errungenschaften, insbesondere die Gedenkstättenarbeit – und doch muss auf politischer Ebene, glaube ich, etwas passieren, dass es eben sich nicht versteift auf Rituale. Ich bin ja auch nicht die Einzige, die das sagt und ich glaube, zu akzeptieren, dass das eben die Arbeit ist und dass es dieses Bestreben immer geben wird und dass man dagegen arbeiten muss und dass das der Prozess ist: Das war mir wichtig zu unterstreichen.
Jonas Dahm:
Du gibst das Beispiel von der Ausstellung Wir waren Nachbarn in Berlin-Schöneberg. Da hatte ich das Gefühl, das ist für dich auch eher ein positives Beispiel. Kannst du mal erklären, was passiert da und was unterscheidet das von anderen Formen, die vielleicht eher in so eine Routine hineingehen und dann eben nicht zum Jetzt und zur Gegenwart führen?
Asal Dardan:
Bei dieser Ausstellung in im Rathaus Schöneberg Wir waren Nachbarn ist gelungen, die Leben weit vor der Ermordung oder Verfolgung und auch in vielen Biografien auch weit nach der Verfolgungsgeschichte darzustellen, ein ganzes Leben und nicht nur das Leben als Opfer und das Leben als Ermordete. Ich finde, die werden so herausgehoben aus diesem Bild, dass dieses Schicksal über allem steht. Sie zeigt, dass es abwendbar sein kann, wenn zivilgesellschaftlich mehr passiert. Darum finde ich diese Ausstellung tatsächlich sehr gelungen. Aber das ist ja nicht der einzige Aspekt, über die Opfer zu sprechen und das ist etwas, dass wir das noch nicht so gut gemacht haben – und zwar auch auf die Täter zu blicken und wie sie eben auch keine anderen sind und waren, sondern auch aus dieser Gesellschaft heraus agiert haben und agieren? Sich zu fragen, was haben sie mit uns zu tun und darüber habe ich auch schon häufiger gesprochen und ich glaube, ich schreibe das auch im Buch: Dass es nicht darum geht, sie sich genauso anzugucken wie die Opfer, also, sich zu fragen, was waren ihre Biografien und wie waren ihre Kindheiten und so. Der Blickauf Täter muss anders sein als auf die Opfer, um zu sehen, welche Strukturen und welche Diskurse und welche Umstände, die wir gesellschaftlich miteinander kreieren, führen dazu, dass diese Taten und Täter aus dieser Gesellschaft erwachsen können. Ich glaube, da ist die Versteinerung: Wenn man nur Identifikation anbietet für alle mit den Opfern. Das ist unangebracht. Das sieht man so ein bisschen in diesen Tränen von Friedrich Merz kürzlich bei der Neueinweihung der Synagoge in München. Ich finde das natürlich gut, wenn sich auch Politiker:innen noch mal emotional erreichen lassen von der Monstrosität der Gewalt. Aber Friedrich Merz ist auch jemand, der Enkel ist von jemandem, der Bürgermeister war zwischen 1933 und 1937 und der bisher immer verweigert hat, das anständig aufzuarbeiten. Und ich würde sagen, dass das erinnerungskulturell die wichtigere Aufgabe wäre, als gerührt zu sein vom Leid der Opfer.
Jonas Dahm:
Ich finde genau diesen Punkt, diese Beschreibung dieser Versteinerung – das ist etwas, was dein Buch sehr ins Heute zieht, womit du anbietest, wie wir das Aktuelle angehen können. Genau diese Frage von – Rassisten sind immer die anderen, Gewalt sind immer die anderen, Gewalt ist auch immer in der Vergangenheit, ist nicht so im Heute – dass du diese Versteinerung zum Gegenstand und auch verstehbar machst, dieses Weghalten von Gewalt, von Rassismus, von Kontinuität, dieses Sachen in der Vergangenheit einschließen. Was aktuelle politische Positionen, auch eine politische deutsche Positionierung zu internationaler Politik, konkret zu Palästina und zu Gaza angeht, siehst du da eine Kontinuität von einer bestimmten Form des Erinnerns ins Heute?
Asal Dardan:
Ja, selbstverständlich. Also ich habe auch, als der 7. Oktober war, an diesem Buch schon geschrieben oder steckte in dem Berlin-Kapitel. Ich kann kaum beschreiben, wie das war, über diese Wohnungen und Nachbarschaften in Schöneberg zu schreiben, während die Nachrichten sich so entwickelt haben und ich habe inzwischen akzeptiert, dass ich eine Autorin bin, die zwar sich involviert fühlt, aber eben nicht schnell reagieren kann. Das werfe ich mir auch teilweise vor. Gleichzeitig hatte ich im Nachgang oder um den 7. Oktober herum das Gefühl, ich will meine Stimme nicht dazu hören und ich war auch extrem überfordert, dadurch, dass ich eben in diesem Kapitel steckte – und zugleich war ich so überfordert davon, dass viele mit genau den Dingen argumentiert haben, die mir wichtig sind, aber andere Schlussfolgerungen gezogen haben. Nämlich, dass die Auslöschung von zivilen Zielen, von Menschenleben, von ZivilistInnen legitim ist, aus der Geschichte heraus. Aus unserer Verantwortung der Geschichte gegenüber heraus. Das war für mich tatsächlich sehr erschütternd. Ich kann nachvollziehen, was das für traumatische Momente hervorgerufen hat und geweckt hat und ich glaube, wir müssten in Bezug auf unsere Erinnerungskultur auch nochmal fragen, inwiefern wir Einseitigkeit, Verletzung, auch ein Reagieren aus einem generationalen Trauma heraus – wie viel Raum wir dem eigentlich geben. Warum wir aus unserer Erinnerungskultur ableiten, dass alle immer versöhnlich sein müssen und ausgewogen sein müssen. Ich glaube, es gibt auch ein extremes Versäumnis mit Blick auf die Opfer, dass wir sie immer glätten wollen, lieblich haben wollen und ich glaube, dass Deutschland – oder sagen wir mal, dass die deutsche Politik – sowieso massiv versagt im Moment. Aber auch unsere öffentlichen Diskurse, weil wir fast wie in Schablonen gelernt haben zu denken und die Schablonen passen jetzt nicht auf unsere Realität. Menschen sind so besorgt, das Wort Genozid zu verwenden für das, was in Gaza passiert, weil sie den Eindruck haben, damit entwerten sie die Erinnerung an den Holocaust und die Shoah. Aber was für mich wichtig ist im Blick auf die Opfer von damals, wenn man sich anhört, was sie gesagt haben, natürlich nicht als Masse, aber viele von ihnen – Esther Bejarano beispielsweise hat immer gesagt, ich will, dass ihr das nicht nochmal macht. Sie haben sich natürlich eingesetzt, weil sie wollten, dass man sich an sie und ihre Familien und die vielen Menschen, die ermordet wurden, erinnert. Aber es ging auch immer darum, dass die, die zur Erinnerung an ihre eigenen Verbrechen gezwungen werden sollen oder hingeführt werden sollen, dass sie eine Verpflichtung auch in der Gegenwart und in der Zukunft verspüren. Ich glaube, darum haben wir ja auch unser Grundgesetz – und alle möglichen internationalen Dokumente sprechen immer wieder von Menschenwürde aller, von Menschenrechten aller – und daraus abzuleiten, dass wir aber eben diese Verpflichtung nicht allen gegenüber haben: Ich kann es nicht nachvollziehen. Ich kann zwar die Vorsicht und auch das Hadern mit Traumata und so weiter nachvollziehen, aber irgendwann muss es eine politische Übersetzung dessen geben, es muss einen Weg aus so einem traumatischen Loop geben. Ich finde, wer sich an Begriffen stört, statt an dem, was in Gaza passiert, wer sich daran stört, dass man das ein Genozid nennt, statt daran, dass wir täglich Bilder von Familien sehen, die ausgelöscht werden – dann weiß ich nicht, ob wir die richtigen Schlussfolgerungen aus unserer Erinnerungskultur gezogen haben. Ja, das ist meine komplizierte Antwort darauf. Also, ich glaube, wir müssen sehr, sehr viele Dinge aufarbeiten aus den letzten zwei, drei Jahren, – und das hat schon vor dem 7. Oktober angefangen, mit der Documenta und dem sogenannten Historikerscheit 2.0. Ich glaube, das ist eine Timeline des Scheiterns im öffentlichen Diskurs, wir stolpern einfach von einem Scheitern ins nächste. Natürlich ist unser öffentlicher Diskurs marginal im Vergleich zu dem, was in Gaza passiert und dem Morden in Gaza, gleichzeitig ist es für uns, glaube ich, wichtig, weil die Art und Weise, wie wir über Menschenleben sprechen im Moment… Ich weiß auch inzwischen gar nicht mehr, was Menschenwürde in unserem öffentlichen Diskurs eigentlich bedeutet. Darum, glaube ich, ist es sehr wichtig, dass wir das irgendwann noch mal bearbeiten, anständig bearbeiten – und im Grunde, was heißt irgendwann? Ich versuche das immer wieder und das versuchen auch andere. Das gibt mir Hoffnung, dass es Menschen gibt, die nicht einfach weiterziehen und es zulassen, sondern dagegen halten.
Jonas Dahm:
Ich würde gerne noch einmal kurz auf dein Buch zurückkommen und auf das Angebot, was du machst, um sich konkret mit dem zu konfrontieren, was da ist und nicht eine große Geschichte zu erzählen, in der wir uns verlieren. Es gibt diesen Moment, wo du beschreibst, wie du an deinem Haus in Berlin vorbeigehst und dich mit den Geschichten der früheren Bewohner:innen konfrontiert siehst. Ich habe mich gefragt, diese Konfrontation gegenüber den ganzen Meilen, wo du vorher an dem Haus vorbeigegangen bist: Was hat dich da innehalten lassen, warum kommt das Konkrete und die Vergangenheit in diesem Moment zu dir?
Asal Dardan:
Ja, ich glaube, so ein Vorbeikommen an einem konkreten Ort und das dann in dem Moment zu realisieren und durchlässig zu sein dafür, öffnet, glaube ich, die Augen grundsätzlich dafür, dass, wenn wir Schnipsel aus der Vergangenheit oder auch aus der Gegenwart hören, kleine Nachrichten über Gewalt oder Krieg – dass diese Schnipsel ganz konkret bedeuten, dass dort ein Haus eines ganz bestimmten Menschen, eines konkreten Menschenlebens, einer Familie betroffen ist. Dieser Moment, dass man sich vorstellt – ja, in diesem Haus lebte jemand und wurde dort rausgezogen und an Nachbar:innen vorbei – das so sich konkret vorzustellen in diesem Moment, das, glaube ich, muss einfach den Blick öffnen für die Tatsache, dass es heute auch wieder geschieht und geschehen kann. Ich glaube, das schreibe ich auch im Buch, dass Erinnern oder dieses sich-selbst-positionieren innerhalb eines Erinnerungsgeflechts ist immer im Spannungsverhältnis zwischen etwasbanalisieren, in dem man alles in der Gegenwart darauf bezieht und damit vergleicht und denkt, alles wäre gleich – und auf der einen Seite, dass man es sakralisiert, für sakral erklärt und sagt, es ist unantastbar und nichts ist damit zu vergleichen. Im Vergleich steckt ja auch immer das Herausarbeiten von Gegensätzen, von Unterschieden, ebenso wie Ähnlichkeiten. Ich glaube, sich vor Augen zu führen, dass man es eben nicht nur mit abstrakten Begriffen zu tun hat, wie Genozid oder Erinnerung oder Menschenwürde, sondern mit ganz Konkretem wie einem zwölfjährigen Mädchen in der Münchner Straße, das zeigt uns auch, das wir selber als einzelne Menschen damit verknüpft sind. Das wir uns nicht loslösen können aus den Verbindungen und Beziehungen über Zeiten hinweg.
Jonas Dahm:
Dein Buch heißt Traumaland. Eine Spurensuche in deutscher Vergangenheit und Gegenwart. Asal Dardan, vielen Dank für das tolle Gespräch.
Asal Dardan:
Danke dir, Jonas. Das war jetzt nochmal sehr anregend, nochmal in mein Buch reinzugehen, mit dir. Danke.
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