#117 Rabea Edel: „Es ging darum zu erzählen: Wie werden wir, wer wir sind.“ [30:27] 

06. August 2025

Rabea Edel
© Rabea Edel

Rabea Edel ist in Bremerhaven geboren und hat auch ihren Roman Porträt meiner Mutter mit Geistern dort spielen lassen. Warum die Geschichte nur dort spielen konnte, wie viele Geister wirklich in dem Roman stecken und wie die Figuren versuchen von ihrer Vergangenheit loszukommen – darüber spricht sie in dieser Folge mit Frieda Ahrens.

Zum Nachlesen

Frieda Ahrens: 
Hallo und herzlich willkommen zur neuen Folge des Literaturhaus Podcast, diesmal mit Frieda Ahrens und zu Gast in dieser Folge ist Rabea Edel. Hallo Rabea!

Rabea Edel: 
Hallo Frieda, freut mich.

Frieda Ahrens: 
Freut mich auch, dass du da bist. Für alle, die uns zuhören, erkläre ich noch mal kurz, wer du bist. Und wenn ich irgendwas falsch recherchiert habe, was da falsch ist, dann grätscht du bitte einfach direkt rein. Du hast Literaturwissenschaften und Italianistik - ist das richtig?

Rabea Edel: 
Ja.

Frieda Ahrens: 
…in Berlin und Siena studiert. Und dann noch mal Fotografie in Berlin. Und du hast schon ganz viele verschiedene Stipendien und Preise gewonnen. Unter anderem, was mir aufgefallen ist. viele Arbeitsstipendien im Ausland. Zum Beispiel warst du in Peking “Artist in Residence” am Goethe Institut. Dein erster Roman “Das Wasser, in dem wir schlafen” erschien 2006 und in dem hast du auch nach Vorschlag von Herta Müller den Kunstpreis Literatur Fotografie Berlin Brandenburg gewonnen. Und über diesen Mix zwischen Fotografie und Autor:innenschaft würde ich gerne mit dir sprechen. Aber vor allem soll es in dieser Stunde über dein neuestes Buch gehen: “Porträt meiner Mutter mit Geistern”. Das ist jetzt 2025 erschienen. Meine erste Frage wäre, wenn man den Titel so liest: Wie viel Geister gibt es denn in diesem Buch?

Rabea Edel: 
Sehr, sehr viele. Also es kommt darauf an, wie man die Geister sieht oder was man alles als Geister begreift. Es gibt in dem Buch einen Schlüsselsatz, den kann ich mal vorweg zitieren, der heißt: “Keine Angst vor Geistern, es sind nur Möglichkeiten, die wiederkommen.” Und das erklärt schon vieles. Man kann zum einen natürlich von den Geistern ausgehen, aus der Vergangenheit, wie man das so kennt als Begriff. Dass die Menschen, mit denen man ein Leben verbracht hat, oder auch alle Menschen, die vor einem da waren und einen auch unbewusst geprägt haben und über Generationen Dinge weitergegeben haben, dass die als Geister immer vorhanden sind. In einem und um einen herum, im übertragenen Sinne als Erinnerung oder eben auch als Schweigen und als nicht-auserzählte-Geschichte.
Zum anderen aber eben auch die vielen Möglichkeiten, die sich bieten in jedem neuen Leben und in jedem neuen Moment, dass man nicht unbedingt von vorne anfangen kann, aber zumindest die Hauptfigur, die eine, also die Mutterfigur- Martha in der Erzählung -, die versucht, immer wieder neu zu starten und neu anzufangen. Und sieht diese Geister quasi, vor denen sie auch ein wenig flieht und fliehen muss, auch als Möglichkeiten, um um ein anderes Leben zu leben. Also das Buch ist voll von Möglichkeiten, von verpassten Möglichkeiten und eben auch von Geschichten aus der Vergangenheit, die zu zu entdecken gibt.

Frieda Ahrens: 
Genau. Vielleicht sagen wir noch mal kurz, worum es geht. Es ist ein Roman, der sich über mehrere Generationen sozusagen zieht und immer so ein bisschen eine Mutter-Tochterschaft thematisiert und dann halt über Generationen. Also Dina ist quasi die Älteste, die wir erleben. Dann geht es um die Tochter Selma, dann geht es um deren Tochter Martha und schließlich geht es um Raisa. Ich war super dankbar, dass es am Anfang des Romans, wenn man das Buch aufklappt, gibt es eine kleine Chronologie mit auch so wer mit wem mal zusammen war und welche Kinder entstanden sind und so. Und das hat mir sehr geholfen, weil man begleitet so eine nach der anderen. Aber es stimmt nicht so ganz, weil chronologisch begleitet man es gar nicht. Man springt sehr oft. Warum hast du dich dafür entschieden, für diese Erzählweise?

Rabea Edel: 
Also genau, es gibt im Vorblatt und auch hinten einen Stammbaum und da ist der Schwerpunkt, auch optisch kann man das sehen, auf die Erzählung der Frauenlinie, also der weiblichen Genealogie gelegt. Und das ist auch der Ansatz gewesen, dieses Buch und diese Geschichte zu erzählen, dass eben die Schicksale dieser vielen Frauen: der Urgroßmutter von Raisa, der Großmutter, ihrer Mutter und dann auch ganz am Ende auch ihrer eigenen Tochter erzählt wird. Und es springt ein wenig durch die Zeiten, sagen viele. Letztendlich ist es so, dass eine Erinnerung hinüber geht in die dann erzählte Wirklichkeit. Zum Beispiel gibt es eine Überleitung in einem Kapitel, das Raisa sich an einem Foto ihrer Mutter erinnert aus den 50er Jahren, wie sie als Kind an einem Brunnen steht. Und dann wird eben als nächstes, genau in den 50er Jahren diese Szene oder dieser Abschnitt aufgegriffen. Es ist alles mit allem verbunden und es ist der Tatsache geschuldet, dass Erinnerungen ja niemals chronologisch sind. Also es geht hier viel um Erinnerungen und die Suche auch in der Vergangenheit und das, was passiert ist und die vielen Menschen und Puzzleteile zusammenzusetzen, das passiert ja nie chronologisch. Raisa versucht auch von ihrer Mutter Dinge zu erfahren und auch das wird nicht chronologisch erzählt. Aber letztendlich setzen sich all diese Puzzlestückchen dann zusammen zu einer Erzählung. Und wenn man quasi als Leser:in in einer Ebene eine Frage stellt, bekommt man zum Teil in einer anderen Ebene, die eben weiter zurückgeht, schon erzählt, warum das Ganze so passiert. Es ging auch darum zu erzählen, wie wir werden, wer wir sind. Was verstrickt uns oder was prägt uns, was passiert, dass Menschen sich verändern. Was passiert zum Beispiel, dass die Mutter von Raisa so eine toxische, gewaltvolle Kindheit hatte. Ihre Mutter selber, also die Selma, war ja nicht von Grund auf böse, sondern hat ganz viel durchlitten. Und es ging auch darum zu erzählen, wie viel durchleiden wir, was prägt uns und was verändert auch den Menschen: Wie viel kann er aushalten? Oder eben sie in dem Fall. Wie viel können diese Frauen aushalten in ihren Biografien? Wie viel mussten sie aushalten? Und es ging eben durch diese sehr, sehr verflochtene Verknüpfung am besten. 

Frieda Ahrens: 
War das der Anspruch? Dass man das als Leserin so empfindet, wie vielleicht die Protagonistinnen im Buch auch? Und zwar, dass man nicht alles direkt versteht, sondern so sich bruchstückhaft alles zusammen sammelt und dann immer mehr erkennt? Und manchmal auch den Zusammenhang verliert und ihn dann irgendwann wieder aufgreift?

Rabea Edel: 
Also der Anspruch war natürlich nicht, die Leserinnen zu verwirren. Sondern ja, es ist schon zum einen meiner eigenen Recherche geschuldet. Das Buch basiert ja in Teilen auf wahren Ereignissen, auf wahren Personen, die es gegeben hat. Natürlich verfremdet jetzt im Roman und umbenannt usw und fiktionalisiert. Aber auch meine eigene Recherche und meine eigene Suche für dieses Buch war natürlich nicht chronologisch. Also es passiert ja nicht, dass man sagt: Okay, ich versuche jetzt die Person zu finden und als nächstes die und dann weiß ich was von A nach B passiert ist in diesem Zeitraum. Sondern es sind eben Bruchstücke, die man zusammensetzt. Also auch wenn man sich mit seinen Eltern oder Großeltern unterhält, kam auch das Feedback von vielen Lesern und Leserinnen, dass die gesagt haben: Ja, es ist genau so: Es werden Dinge verdrängt. Über manche kann gesprochen werden, über andere nicht. Für andere gibt es gar keine Worte, sie zu erzählen. Und daraus resultiert dann eben dieses verflochtene Erzählen und das Auslassen auch von einfachen Antworten. Ich glaube, die Dinge, um die es hier geht - von Kindsverlust über Gewalterfahrung, über das Aufwachsen während des Holocaust und noch viele andere Themen - da sind keine einfachen Erzählungen. Ich kenne keine einfachen Antworten auf die Fragen zu geben, die auch die Tochter stellt. Oder die Töchter jeweils den Müttern und Großeltern stellen.

Frieda Ahrens: 
Und du hast gerade schon gesagt, es ist so ein bisschen anhand von wahren Begebenheiten erzählt, und es gibt in dem Roman auch eine ganz klare Ich-Erzählerin und alle anderen sind nicht in der Ich-Erzähler-Position. Warum ist das denn so?

Rabea Edel: 
Ja, Raisa ist ein bisschen mein Alter Ego. Natürlich ist sie nicht Ich, also diese Trennung Autorin zu Figur ist ganz klar. Aber ich brauchte eine sehr nahbare, kindliche Ich-Erzählerin, um die Geschichte erzählen zu können. Also auch da setzt es natürlich in der Kindheit an, und es wird ja auch die Kindheit in den jeweiligen anderen Erzählschichten erzählt. Und alle Figuren bekommen auch die Kindheit auserzählt und ihre jeweils besten Freunde. Und diesen Kniff brauchte ich, um die Geschichten eben erzählbar zu machen, also um mich das, was passiert ist und das, was erzählt wird über eine nüchterne oder vielleicht sogar gewaltvolle Art und Weise nachzuerzählen, sondern eben einen empathischen, teilweise im positivsten Sinne kindlich naiven Ton zu finden in manchen Stellen. Das ist natürlich vor allem bei der Raisa, als sie noch sehr jung ist, der Fall. Um Fragen stellen zu können, um das überhaupt erzählen zu können und das nicht zu reproduzieren, was erzählt wird inhaltlich. Und die Neugier dieser Kinder und der Blick auf das, was gefragt werden kann und was erzählt werden kann, ist ein ganz andere, als wenn man als Erwachsener ansetzt und Fragen stellt. Also ein erwachsenes Gespräch zwischen der erwachsenen Tochter und einer erwachsenen Mutter hätte ganz anders stattgefunden und hätte gar nicht die Möglichkeiten geboten, diese Geschichten zu erzählen.

Frieda Ahrens: 
Obwohl ja manchmal in der Erzählung auch die Möglichkeit der Kommunikation zwischen jüngeren Töchtern und Müttern nicht richtig da ist. Also Raisa und Martha sprechen nicht wirklich miteinander, sondern finden dann irgendwann anderen einen Weg. Und zwar schreiben sie sich Briefe und stecken sie so in eine Mauer. Daran anknüpfend könnten wir vielleicht drüber sprechen: Es wird in dem Roman geschrieben, die Figuren schreiben. Und die Briefe werden auch manchmal als einzelne Kapitel gezeigt. Und auch eine andere Figur, Jakob schreibt auch selber, versuchte seine Geschichte aufzuzeigen. Wie ist es, Figuren in einen Roman einzubetten, die selber schreiben?

Rabea Edel: 
Ähm, Martha brauchte das geschriebene Wort, um selbst sich ihrer eigenen Geschichte ermächtigen zu können. Es ist quasi das reflektierte, märchenhafte und auch sehr viel ausgelassene Fabulieren, das Schreiben. Ganz kurze Nachrichten sind es, die sie ihrer Tochter schreibt. Und das war eben das Mittel zum Zweck, um sie überhaupt erzählen lassen zu können, was da alles an Vergangenem vergraben liegt. Ein Weg, sich heranzutasten an das, was ihr passiert ist und was sie vor ihrer Tochter verschweigt, wovor sie ihre Tochter schützt. Und es hat natürlich etwas sehr Verspieltes. Und das ist genau das, was auch für mich wahnsinnig Spaß gemacht hat beim Schreiben. Also das, was man in der Literatur ja eben ausprobieren kann: Diese anderen Wege des Erzählens suchen, die vielleicht auch im realen Leben so passiert sind oder passieren könnten, das eben nicht in einem klaren Gespräch Dinge auf den Tisch gelegt werden, sondern ein Ringen um die Worte stattfindet. Also wie kann ich etwas erzählen? Es sind ja auch Zettel dabei, die durchgestrichen sind. Oder vielleicht hat sie noch mehr geschrieben und stecken gar nicht in der Mauer. Und bei Jakob ist es auch so, dass er als 92-jähriger - also das stellt sich später heraus, nur als Kontext, dass er der Vater von Martha ist, den sie ihr Leben lang nicht kennengelernt hat, der eben auch verschwiegen wurde, über den nicht gesprochen wurde, der fliehen musste, der untergetaucht ist während des Holocaust und später ausgewandert ist nach New York und da ein Leben geführt hat, von dem wir nicht so viel erfahren, aber eben als 92-jähriger zehn Tage vor Jom Kippur eben dasitzt und versucht, alles gut aufzuschreiben. Und auch Worte für das zu finden, was eigentlich nicht erzählbar ist oder für ihn sein Leben lang nicht erzählbar war. Und da schließt auch ein Versprechen an Selma an, dass er darüber nicht sprechen wird, was passiert ist. Und jetzt versucht er es eben doch, und er versucht das übers geschriebene Wort. Und dieses Schreiben im Schreiben reflektiert so doppelbödig die Prozesse des Schreibens selbst, also auch dieses Buches. Und zeigt auch, wie viel Sprache eigentlich vermag. Also er sitzt dort und sammelt und hat um sich herum wahnsinnig viele Kisten in dieser 1-Zimmer-Wohnung voller vorgeschriebener Blätter und fängt immer wieder von vorne an und sagt: Als es die Möglichkeit gab zu sprechen, sind ihm die Worte aus dem Mund gefallen. Er konnte sie nicht aussprechen, aber er versuchte es eben aufzuschreiben. Und es gibt eine Stelle, wo er fast am Ende ist und das Gefühl hat, jetzt hat er alles geschafft niederzuschreiben, was zu sagen ist. Und er legt seinen Kopf auf dieses Manuskript und hört quasi hinein in diese Seiten und hört zu den Herzschlag und hört dann die Geschichte, wie sie weiter verläuft und sagt “Okay, jetzt ist es ruhig und jetzt ist es gut.” Also dieses Gefühl “Ich habe alles gesagt und alles niedergeschrieben” ist ganz elementarer Teil der Geschichte und natürlich auch der Weg des des Erzählens, also des Erzählens im Erzählen.

Frieda Ahrens: 
Und dann Schreiben auch als Verarbeitungsprozess sozusagen? Als Prozess mit der eigenen Geschichte überhaupt klar zu werden, was überhaupt passiert ist? Ist es auch was, was du bei dir wieder gefunden hast, als du das Buch geschrieben hast? 

Rabea Edel: 
Also Schreiben als lautes - oder eben leises - ich wollte jetzt lautes Denken sagen. Klar, wenn ich schreibe, ist für mich gefühlt ein lautes Denken, aber eigentlich ist es ja ein sehr leises Denken. Und Deborah Levi hat mal gesagt, dass das Schreiben eines Buches auch immer das Stellen einer Frage ist und die Suche nach der Antwort. Ich glaube, das trifft es ganz gut. Also dass dieses Schreiben des Buches oder des Romans auch für mich im Grunde die Suche nach Antworten und das Stellen von vielen Fragen war, wo es ist nicht auf jede Frage eine Antwort gibt. Und ich bin eben Schriftstellerin und es ist dann das geschriebene Wort, was mir am nahesten ist. Und da ein Weg zu finden, diese Geschichten jetzt doch zu erzählen und dann aber auch lesbar zu machen für ganz viele Leserinnen. Dass die selber eintauchen können in diese Geschichte. Und ich glaube, es gibt in diesen Familiengeschichten, die hier angerissen werden, anerzählt werden, ganz grundsätzlich aus diesen Generationen ganz vieles, was andere Leser:innen wiedererkennen können in ihren eigenen Familiengeschichten. Also ich glaube, gerade diese Erfahrung der Nachkriegsgenerationen, des Aufwachsens in den Fünfzigern, Sechzigern, aber auch in den Zwanzigern, Dreißigern mit all dem, was unerzählt geblieben ist oder verschwiegen wird. Solche Schwarzen Löcher, heißt es im Buch ja auch, oder Gespenster oder Geister gibt es eben, glaube ich, in allen Familien.

Frieda Ahrens: 
Wenn wir gerade dabei sind - was eine gute Überleitung - bei: Sachen wiedererkennen oder sich wiederfinden in einem Buch. Wir sind ja das Literaturhaus Bremen und das Buch spielt in Bremerhaven. Und mir ist es beim Lesen deshalb auch so gegangen, dass die natürlich Orte, die du da beschreibst, kenne und dann ist est natürlich immer angenehm, wenn man denkt “Ah, die Straße kenne ich” oder “den Ort kenne ich”. Du hast aber gestern im Vorgespräch auch gesagt, Bremerhaven ist da ein bisschen so ein fiktionaler Spielort. Für mich ist er ja überhaupt nicht fiktional, sondern sehr real. Wie kommt das denn zusammen?

Rabea Edel: 
Also fiktional in dem Sinne, also es basiert auf den historischen Ereignissen, die werden auch erzählt in den Kapiteln, wo sie wichtig sind, von der Bücherverbrennung über die Deportation nach Minsk von Jakobs Mutter usw. Das brennende Kaufhaus Schocken usw. Also die historischen Ereignisse gerade in den 30ern, 40ern werden erzählt. Aber auch die 50er, 60er, die amerikanischen Besatzer-Jahre quasi und ganz bestimmte historische Orte werden auch benannt und Details - das ist natürlich dann nicht so fiktional. Mit einem fiktionalen Ort meine ich, dass es natürlich immer, sobald ich nicht in der Zeit aufgewachsen bin selber und all diese Dinge selbst erlebt habe und dann nur recherchiert habe, dann in dem Prozess des Schreibens eben fiktionalisiert wird und zu was Erzähltem wird. Trotzdem ist es natürlich das Bremerhaven aus dieser Zeit. Nie allumfassend, nie mit Anspruch auf komplette, hundertprozentige Richtigkeit der Fakten, sondern eben die Fiktionalisierung dieses Ortes, aber eben auch mit den historischen Infos im Hintergrund. Und es hätte, da haben wir auch schon kurz drüber gesprochen, es hätte auch gar nicht irgendwo anders spielen können, eben weil es auf diese wahren Begebenheiten beruht in manchen Teilen aber auch, weil es wahnsinnig interessant ist, an diesem Ort einen Roman spielen zu lassen. Da gibt es, glaube ich, in der Literatur auch nicht ganz so viele. Also ich habe nichts zumindest gefunden. Ich habe viele Sachbücher gefunden bei der Recherche, aber eben keinen Roman. Und gerade das Setting dieser Stadt mit den Umbrüchen, die diese Stadt durchgemacht hat, mit dem Amerikahafen, mit dem Auswandererterminal usw und dem Status quo der Stadt jetzt, also gerade das ist wahnsinnig spannend. Und das hat mich auch gereizt zu nutzen, dass es da eben diese Anbindung gibt und die Möglichkeit des Erzählens.

Frieda Ahrens: 
Wie sah denn da deine Recherche aus? Warst du vor Ort?

Rabea Edel:
Ja, ich war viel vor Ort. Ich habe aber auch mit Archiven gesprochen. Also Teile waren dann während der Corona-Zeit, wo man dann nirgendwo hin konnte, das lief dann telefonisch oder eben online ab leider. Ich habe mir viel erzählen lassen, viel gelesen - ganz unterschiedlich. Also von Archiven über Kirchenbücher, über alte Fotografien, über die Architektur des Auswandererhauses usw. Wenn man erstmal anfängt zu suchen, findet sich viel. Also gerade auch über die amerikanischen Jahre. Und genau das war dann irgendwann eine riesengroße Sammlung an Informationen und eben auch an Unterlagen von Geburtsurkunden über Auswanderernotizen usw. Und irgendwann musste ich diesen Stapel aber natürlich auch weglegen, um zu sagen, ich mache kein dokumentarisches Buch, sondern eben einen Roman. Und das Wissen, das hat sich dann natürlich mit eingeschrieben während der Arbeit am Romantext. Also alles, was man sich so aneignet an Informationen ist, glaube ich, gespeichert. Und natürlich habe ich bei bestimmten Dinge den Faktencheck dann noch mal gemacht. Aber es ging ja nicht darum, eben eine Dokumentation zu schreiben. Aber der Hintergrund ist ein Berg an Informationen auf jeden Fall, den ich gesammelt habe.

Frieda Ahrens: 
Man ließ es Roman auf jeden Fall auch an, dass da viel Wissen drinsteckt. Ich finde ganz viele Romane in der jetzigen Zeit spielen ja immer mehr mit diesem “Wie fiktional ist es dann doch?” Also wie sehr ist dann die Autorin oder die Person, die schreibt, doch die Protagonistin? Und ich finde, die Frage hat sich bei mir bei dem Roman gar nicht so krass gestellt, anders als sonst. Und trotzdem ist da sehr viel faktisch drin. Also es ist gar nicht so fiktional wie andere Romane und trotzdem hat sich die Frage nicht gestellt, ob du das bist. Also das ist eine sehr gute Mischung und sehr spannend.

Rabea Edel: 
Das freut mich zu hören, das war für mich auch das Ziel. Es ist im Grunde sehr autofiktional, ich könnte aufdröseln, was eins zu eins übernommen wurde, aber das bleibt eben mein Geheimnis bzw. das meiner Familie. Deswegen haben wir auch bewusst den Disclaimer, dass es eben auf wahren Begebenheiten beruht am Ende gesetzt, damit dieses Buch einfach als Roman in erster Linie gelesen wird, als fiktionaler Roman und dann hinterher nachgereicht wird: Okay, es ist tatsächlich in großen Teilen auch so passiert. Es gibt sowohl Figuren als auch schicksalhafte Wendungen, also auch Wiederholungen und eben abgesehen von historischen Ereignissen einfach private Dinge, die eingeflossen sind und auf denen dieser Roman eben basiert. Ohne diese Autofiktion, die dem zugrunde liegt, ohne die wahren Ereignisse, hätte ich das Buch auch selber nicht schreiben können. Also das war schon auch der Auslöser der Suche nach bestimmten Menschen, die das Ganze losgetreten haben.

Frieda Ahrens: 
Du hast gerade gesagt, es gab Wiederholungen. Der Roman spielt ja auch damit, dass es in diesen Generationen immer wieder Geschichtsstränge gibt, die sich so ein bisschen wiederholen, obwohl Matas Mantra ja manchmal auch so ist: “Nichts wiederholt sich, nichts wiederholt sich”, um so ein bisschen damit brechen zu wollen. Aber es gibt zum Beispiel immer Jugendfreunde. Du hast es eben schon gerade angesprochen. Es gibt einmal Jakob und Oskar, die Jugendfreunde von Selma. Dann gibt es Paul, das ist der Jugendfreund von Martha. Und dann gibt es Mat am Ende. Ich fand es ganz spannend, weil Mat so ein bisschen der Einzige ist, der so ganz bis zum Ende bleibt. Obwohl Paul auch so ein bisschen. Aber Martha löst sich ja schon sehr von ihrer Vergangenheit. Aber Mat ist so ein bisschen der Einzige, der noch bleibt im Leben der Frau sozusagen. Warum gibt es denn diese Jugendfreunde? Ist es dieses, was am Anfang schon sagtest, dass die auch eine Funktion eingenommen haben, etwas erzählen zu können?

Rabea Edel: 
Es ist tatsächlich so, dass die im Grunde für die jeweiligen Mädchen in ihrer Zeit auch so etwas wie Familie sind, also die Familie ersetzen. Die leisten im Grunde eine Nähe und ein Vertrauen und eine Liebe, eine platonische Liebe in gewisser Weise, die die Familie nicht zu geben vermag. Und deswegen sind sie wahnsinnig wichtig als Menschen, sowohl für Selma sind Oscar und Jakob wahnsinnig wichtig, ganz abgesehen davon, dass da auch sich eine Liebesgeschichte entspinnt, aber auch Oskar und Jakob füreinander. Und für Martha, der Nachbarsjunge auch. Und auch Raisa wächst in den 80ern, 90ern Haus an Haus mit einem Jungen auf, also zwei alleinerziehende Mütter eben mit ihren Kindern. Und natürlich verbünden die sich und verstehen sich und sind füreinander da und ersetzen im Grunde dieses klassische Familienmodell, was, wie man über die Generationen gesehen hat, in dieser Familie zumindest sowieso nicht funktioniert und nie funktioniert hat. Also die Väter waren alle Abwesende oder konnten ihre Rollen nicht ausfüllen - aus unterschiedlichen historischen oder biografischen Gründen oder eben aus einem Nicht-Können und Nicht-Wollen heraus. Ganz verschieden. Aber das, was da ist, sind eben die Frauen und ihre Kinder. Und eben die Freunde. Und gerade Paul, der Freund der Mutter von Raisa, der beschützt sie ja auch in ganz vielen Situationen. Mat muss das dann mit seiner Freundin in den 80ern/90ern nicht mehr machen. Aber gerade Paul beschützt seine beste Freundin sehr, sowohl in gewaltvollen Situationen als auch unterstützt sie später dann in ganz verschiedenen Momenten. Und diese Unterstützung und das Vertrauen, das war ganz wichtig, das auch zu erzählen, weil es eben Teil dieser Figuren ist. Und auch da gab es tatsächlich Vorbilder im Original. 

Frieda Ahrens: 
Ah spannend. Es gibt noch einen zweiten Strang, der sich irgendwie durchzieht, und zwar wird das dann auch in einem Brief, den Martha schreibt, beschrieben. Sie schreibt “Es gibt immer zwei und immer ein Kind, das bleibt.” Also es gibt ganz oft die Erzählung, dass die Töchter, um die es geht, nicht die einzigen Kinder der Mütter waren, sondern dass es ein erstes Kind gab, das verstorben ist. Und auch bei Jakob gibt es eigentlich einen Zwillingsbruder, der nicht überlebt. Also durch diesen Roman, habe ich das Gefühl, zieht sich auch immer so ein Nebel der Trauer der Mütter um dieses verlorene Kind. Warum hast du diesen Strang mit eingeflossen?

Rabea Edel: 
Also das war mein eigener Anspruch an die, man kann fast sagen, Vollständigkeit der Erzählung dieser weiblichen Biografien, die eben geprägt sind von Verlusten, von Kindstoden, von Gewalt, von Trauer, auch von Glück und von Liebe, aber eben auch von allem anderen, über das ganz wenig erzählt und geschrieben wird oder wurde und diese Verluste sind natürlich auch Teil der Biografien. Und so wie es halt zu Kriegszeiten oder auch davor fast normal war, dass Kinder sterben oder dass eben Mütter viele Kinder haben, wovon aber vielleicht nur zwei oder drei überleben. Das abe ich auch entdeckt auf einigen dieser Urkunden oder Unterlagen, die ich eben heraus recherchiert habe, und da dann wahnsinnig viele Kindernamen standen mit aber auch wahnsinnig vielen sehr frühen Todesdaten eben aus unterschiedlichen medizinischen Gründen. Da gab es ganz verschiedene Biografien und das wollte ich mit erzählen, was diese Frauen durchmachen und durchmachen mussten. Und wie sich das peu a peu ändert, aber im Grunde auch nicht - das bis in die heutigen Tage eben so viel gestemmt wird und so viel Resilienz letztendlich verlangt wird von diesen Frauen, das war ein ganz wichtiger Punkt, das zu erzählen.

Frieda Ahrens: 
Und ist es auch ein: Mann will sich aus so einer wiederholenden Geschichte lösen, also will Raisa sich davon lösen?

Rabea Edel: 
Ja, natürlich. So wie ihre Mutter schon versucht, gegen diese Wiederholung anzukämpfen und dadurch eben mit der Familie bricht, um ihre Tochter zu schützen und immer sagt “Nein, es wiederholt sich nichts, ich mach es anders, ich lass meine Tochter ganz anders aufwachsen. Ich gebe ihr die Freiheit, ich gebe Vertrauen und Liebe.” Also Raisa und ihre Mutter haben eine ganz enge, ein bisschen verrückte und sehr schöne Mutter-Tochter-Beziehung. Ganz das Gegenteil von dem, was Martha selbst als Kind erfahren hat oder auch ihre Mutter auch erfahren hat. Es war es mir wichtig, das komplex zu zeigen und dass diese Wiederholung durchbrochen wird. Und natürlich auch das Schreiben des Buches. Oder auch für die Ich-Erzählerin: Die Recherche nach dem Vater der Mutter - dieses Schweigen zu durchbrechen und eine Antwort zu bekommen. Es ist ja quasi: Ich stelle eine Frage und dann ist die Frage gestellt und dann ist der Zirkel dieses Schweigens durchbrochen und dann vielleicht auch die Wiederholung. Also gerade das Erzählen von allem, was vor uns lag, ist ja heutzutage wahnsinnig wichtig, um Wiederholung auch historisch zu vermeiden. Und da wird ja in vielen Familien über vieles einfach geschwiegen, aus unterschiedlichsten Gründen. Um dieser Wiederholung zu entgehen. Und Raisa sagt auch ganz am Ende, dass sie einen Koffer hat, in dem sie sowohl Zeichnung ihres Kindes, als auch so Notizen und alte Spielsachen aufhebt. Aber eben auch diese Zettelchen, die ihre Mutter ihr in die Mauer gesteckt hat. Und Mat sagt. “Ja, mach doch ein Buch draus.” Und es ist so ein bisschen offen, ob dieses Buch. was die Leser:innen dann in der Hand halten, nicht letztendlich eine Mischung aus all dem ist, was sie selber sich notiert hat, was ihre Mutter geschrieben hat und was Jakob eben als Manuskript auch ganz am Ende Richtung Bremerhaven vermutlich schickt. Das bleibt auch ein wenig offen. Es wird angedeutet, ob dieses Manuskript nicht doch bei Raisa ankommt. Und dann schließt sich quasi dieser erzählende Kreis.

Frieda Ahrens: 
Und es wird am Ende ja auch ein Porträt, also ein Foto, Thema. Was noch mal dieses “Porträt meiner Mutter mit Geistern” aufgreift: Ist es das geschriebene Porträt oder wirklich das Bild, das Porträt. Was natürlich auch spannend ist mit dem Hintergrund, dass du Fotografin bist. Und ich habe nämlich in einem Interview mit dir auch schon gehört, es ist die Grundlage des Buches auch ein echtes Foto ist.

Rabea Edel: 
Ja das Foto, was da anerzählt wird, gibt es als Negativabzug. Also sprich alte analoge Fotos eben umgedreht, abgezogen, was hell ist ist dunkel, was dunkel ist ist hell. Und da erschienen diese ganzen Menschen ringsum um ein Bild meiner Mutter als Kind erschienen mir als ich das das erste Mal gesehen habe als Kind, da kann ich mich noch dran erinnern, wie Geister. Also es war was ganz Faszinierendes und aber auch ein bisschen Gruseliges natürlich. Und das Foto lag dann lange in einer kleinen Kiste mit zur Aufbewahrungsschätzen, wie man sie so hat, weiß nicht was da alles so drin ist: Irgendwelche Eintrittskarten, getrocknete Blumen, Fotos, Zeugs und so. Und ich habe immer mal wieder hervorgeholt, dann lange Jahre nicht und dann hatte ich es beim Schreiben in der Hand und habe gemerkt “okay, es ist vieles schon angelegt in diesem Bild.” Das ist ein Bild eines sehr glücklichen Moment, den es wahrscheinlich gegeben hat, aber der einfach nicht ausgereicht hat. Und dieses “nicht ausreichen”, das wollte ich eben ergründen. Wo ist das Glück hin? Warum hat es nicht ausgereicht? Warum hat es nicht gehalten? Und was ist zwischen dem Foto und jetzt alles passiert?

Frieda Ahrens: 
Also ich finde es auch sehr spannend, weil man ja oft sagt, ein Bild sagt mehr als 1000 Worte. Aber dann ist es ja ein Foto, das einen Moment beschreibt, der so irgendwie gar nicht der Realität entspricht, weil er eine glückliche Sache einfängt, die vielleicht das gar nicht ist.

Rabea Edel: 
Ja, vielleicht war es in dem Moment tatsächlich so: Das ist es gut, dass es das Glück war. Und wenn auch nur für einen kurzen Moment. Das will ich dem gar nicht absprechen. Aber mit dem Wissen, was ich dann hatte und eben nach und nach herausgefunden habe, das war das Spannende, es gab diesen einen Moment, aber der hält natürlich nicht. Und warum hält er nicht? Und was ist die Geschichte oder bestimmte Geschichten, die dazwischen passieren? Ist ja eh bei der Fotografie so, dass es so Momentaufnahmen sind, die keine Allgemeingültigkeit besitzen können, aber eher so ein kurzes Festhalten eines Gefühls oder einer Situation sind. Und je abstrakter sie sind, desto interpretierbar sind sie. Je konkreter sie sind, desto uninteressanter oder langweiliger finde ich sie fast. Also gerade dieses Schwarzweiß umgekehrt hat mich wirklich gereizt. Ich fotografiere ganz anders. Das sind natürlich ganz andere Arten von Bildern. Die Kombination aus Bildern oder bildhaftem Denken und Schreiben liegt bei mir sehr nah beieinander. Also es gab ja auch Gründe, warum ich dann noch Fotografie studiert habe, weil ich gemerkt habe, manche Dinge kann ich dann schriftlich festhalten oder ausformulieren. Da braucht es erst mal ein Bild und andersherum. Ich habe auch ein Fotobuch gemacht zum Thema Mutterschaft, unter anderem waren da auch viele Dinge angerissen, wo ich gemerkt habe: Okay, es gibt da noch einen begleitenden Text, aber auch dieser Text reicht nicht aus. Ich musste noch mal wieder zurück zum Wort. Also die Dinge greifen ineinander, sowohl das Fotografieren als auch das Schreiben. Je nachdem, welche Geschichte ich erzählen möchte oder welches Thema verknüpfen sich die Mittel oder eben nicht. Also entweder bearbeite ich es fotografisch oder in der Literatur.

Frieda Ahrens: 
Hast du das Gefühl, dass ein Bild oder ein Buch besser erzählen kann?

Rabea Edel: 
Was von beidem besser ist?

Frieda Ahrens: 
Ja, los, entscheide dich.

Rabea Edel: 
Das kann ich gar nicht. Also ich glaube, da jetzt eine Entscheidung - das ist so ein bisschen wie bei “eins, zwei oder drei, letzte Chance vorbei”, das muss man auf einen Strang hüpfen. Ich würde das gar nicht gegeneinander ausspielen wollen, sondern ich sehe das wirklich sich gegenseitig ergänzend in meinem Fall und für ganz unterschiedliche Art von Arbeit. Also ich fotografiere Analog, Mittelformat. Das ist ein sehr langsames Arbeiten, sehr langsames Fotografieren. Da ist natürlich der Kontakt zu echten Menschen - also ich arbeite viel mit Porträts - da ist der Kontakt zu echten Menschen in dem Moment da, deshalb ist es eine ganz, ganz andere Situation, als wenn man alleine am Schreibtisch sitzt und nur “mit seinen Figuren ringsum”. Aber die ja nur für einen selbst real sind in dem Moment des Schreibens. Ich brauche beides, habe ich gemerkt, könnte mich nicht entscheiden.

Frieda Ahrens: 
Schön, Unsere halbe Stunde ist schon rum. Sie ist geflogen, wie ich finde. Deswegen danke ich dir für das Gespräch, Rabea. Und ich danke natürlich wie immer auch euch alle lieben Zuhörer:innnen für euer Interesse und für eure Zeit. Auf Wiederhören.

Rabea Edel: 
Danke dir.

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Der Text wurde KI-gestützt transkribiert.