Mit „Frau im Mond“ hat Pierre Jarawan einen gefühlvollen, aufschlussreichen und auch humorvollen Roman geschrieben. Eine Familiengeschichte, die zwei Kontinente, drei Generationen und über 100 Jahre spannt. Mit Vanessa Guinan-Bank spricht er darüber, wie das Erzählen in Familien identitätsstiftend sein kann, was es bedeutet historische Ereignisse zu fiktionalisieren und über die Lebanese Rocket Society.
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Vanessa Guinan-Bank:
...mit Vanessa Guinan-Bank. Und mir ist heute Pierre Jarawan digital zugeschaltet, um mit mir über seinen dritten Roman »Frau im Mond« zu sprechen. Er ist Autor und freier Fotograf, sein Debütroman wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt und ist ein internationaler Bestseller. Und er hat für sein Schreiben mehrere Preise erhalten, zuletzt den Ernst-Hoferichter-Preis.
Hallo Pierre, schön, dass du da bist.
Pierre Jarawan:
Hallo, danke für die Einladung.
Vanessa Guinan-Bank:
Pierre, dein Roman »Frau im Mond« ist eine Familiengeschichte, die mehrere Generationen und mehrere Kontinente spannt. Erzählt wird die Geschichte von Lilith, die in Montreal, Kanada aufwächst und lebt. Kannst du uns ein bisschen von Lilith erzählen?
Pierre Jarawan:
Ja, Lilith ist die dritte Generation in der Familie El Shami. Der Großvater Maroun El-Shami kommt schon 1920 als Baby nach Montreal und ist 2020 ein 100-jähriger Großvater. Also in dem Moment, als die Geschichte beginnt. Und die Geschichte ist im Grunde die, dass Maroun El-Shami, also seiner Enkelin, ausgelöst von seiner beginnenden Demenz, wenn man so will, beginnt sein Leben auszubreiten. Das ist so die eine große Erzählung. Und Lilith erkennt aber, dass sich in dieser Erzählung des Großvaters noch eine zweite Hauptfigur versteckt. Und das ist ihre unbekannte armenisch-stämmige Großmutter Anoush.
Und das ist der zweite sich entfaltende Strang dieser Geschichte, dieser Spur folgt Lilith dann später. Aber im Grunde ist Lilith in Kanada geboren. Sie ist, wenn man so will, eine klassische Vertreterin dieser dritten Generation. Der Libanon ist ein fernes Land, ist keine zweite Heimat für Lilith, dafür ist sie eben viel zu sehr Kanadierin, wenn man so will. Sie wird aber als Filmemacherin, die einen Dokumentarfilm veröffentlicht hat vor vielen Jahren, immer wieder als kanadisch-libanesische Filmemacherin bezeichnet. Also plötzlich wird die Herkunft eben doch wichtig. Jedenfalls wird das von außen auf sie projiziert.
Aber sie kann mit dem Libanon nicht viel anfangen. Für sie ist das das ferne Land ihrer Großeltern. Die ganze Familie ist in Kanada längst verwurzelt, dass das Land quasi verlassen wurde, das ist über 100 Jahre her. Und so, ja, so hadert sie ein bisschen damit und sucht auch so ein bisschen ihren Platz in dieser Gesellschaft und in der Welt.
Und davon ausgehend, ja, während ihr Großvater also seine Geschichte erzählt, lernt sie natürlich auch, weil sich diese Geschichte zu einem großen Teil im Libanon abspielt, wo er in den 60er Jahren gearbeitet hat, dieses Land ein bisschen besser kennen.
Vanessa Guinan-Bank:
Und jede Familie hat ja so irgendwie so Mythen oder Familiengeschichten, die man sich immer wieder erzählt. Und damit nimmt auch irgendwie alles seinen Anfang mit diesem Mythos der Geburt der Zwillinge. Also Lilith hat noch eine Zwillingsschwester. Und was der Großvater gleichzeitig gemacht hat. Magst du davon ein bisschen erzählen?
Pierre Jarawan:
Genau, also der Roman beginnt eigentlich, wenn man so will, in der Mitte 1986. Dieses Datum, der 4. August, der ist für diese Familie von zentraler Bedeutung. Am 4. August werden die Zwillinge geboren, 1986, auf einem Boot, während die Eltern quasi auf dem Weg zum Standesamt sind, um zu heiraten. Und parallel dazu steigt der Großvater ein paar Kilometer entfernt die Feuertreppe des Seniorenwohnheims hinauf, weil er eine kleine Rakete auf dem Dach zünden möchte. Zuerst weiß man gar nicht, was es damit auf sich hat und später stellt sich heraus, es ist eine Erinnerungsrakete für ihn, denn er erinnert sich an ein Jubiläum vor 20 Jahren, als er im Libanon eine deutlich größere Rakete gezündet hat und damit auf eine Art Weltraumgeschichte geschrieben hat, was aber leider vollkommen vergessen wurde. Nicht nur im Roman, sondern auch in der Realität, weil hier bedient sich der Roman ja quasi der Wirklichkeit. Ich habe dafür ein historisches Ereignis ja verwendet.
Vanessa Guinan-Bank:
Ja, auf die Lebanese Rocket Society möchte ich auch noch zurückkommen. Aber vielleicht bleiben wir erst mal kurz bei diesen Mythen, weil ich finde es sehr spannend, wie es so ist, dass... wie der Roman so beginnt und da sind die beiden Zwillinge ja noch Kinder und da dreht sich alles um diese Mythen, die sie auch immer wieder wiederholt haben möchten. Und dann im Laufe sozusagen als sie erwachsen wird, merkt sie aber, da steckt ja noch viel mehr hinter den Mythen. Also sie muss irgendwie buddeln um eine Ebene tiefer zu kommen.
Pierre Jarawan:
Ja genau. Am Anfang hat man das Gefühl, es ist eine erzählende Familie, es wird erzählt, es werden Geschichten erzählt und damit liegt scheinbar alles auf dem Tisch, aber es ist tatsächlich nur die Oberfläche und das erkennt Lilith eben erst viel später, dass sich da noch ein ganzer Kosmos an weiteren Geschichten unter diesen Geschichten verbirgt und dieser Kosmos wurde nie erzählt und dazu muss sie aber erstmal ein gewisses Alter erreichen. Sie ist ja Mitte 30, also 2020, als sie dann anfängt zu verstehen und auch beschließt nachzuforschen.
Mich hat das einfach sehr interessiert und das interessiert mich eigentlich in allen Büchern, aber hier ist es vielleicht noch am deutlichsten, so diese Funktion von Erzählen in Familien, weil es sind zwangsläufig ja immer Mythen und ein sehr selektives Erinnern, und daraus entsteht dann auch so eine Art Identität, es hat ja was sehr identitätsstiftendes, aber wenn man das mal dekonstruiert, dann kommt man natürlich sehr schnell auch in Abgründe, wenn man dann schaut, hinter dieser Selektivität, was wird denn eigentlich ausgelassen? Und da sind wir dann bei der Großmutter, beim Teil dieser Geschichte.
Vanessa Guinan-Bank:
Ja, bei Anoush, die nicht mehr lebt, aber sowohl sie als auch ihr Mann Maroun hatten ein sehr bewegtes Leben. Kannst du ein bisschen von den beiden erzählen?
Pierre Jarawan:
Ja, also vielleicht fange ich mit Anoush an. Anoush stirbt vor der Geburt der Zwillinge. Also sie ist bereits verstorben, als der Roman beginnt. Das ist keine tragische Geschichte. Sie wird ja auch recht alt. Nur der Großvater hat eben das Glück, 100 zu werden. Deswegen erleben wir ihn noch 2020. Aber sie stirbt einfach in den 80er Jahren schon, kurz vor der Geburt der Zwillinge. Das heißt, die kennen die nicht. Und das einzige, was sie über sie wissen, ist, sie hat als Kind den Genozid an den Armeniern überlebt. Sie wissen, sie ist 1913 geboren, also sieben Jahre älter als ihr Großvater gewesen, also als Marun.
Sie überlebt den Genozid an den Armeniern, kommt in ein Waisenhaus nach Beirut, 1916, 1917 und dort verbringt sie ein paar Jahre und wird dann im Alter von vier Jahren aus diesem Waisenhaus befreit. Befreit muss man so sagen, weil es ein Ort war, der unter Herrschaft der Osmanen stand. Also dieser Genozid spielte sich ja im Osmanischen Reich ab. Und das war ein Ort, an dem die Kinder umerzogen werden sollten. Jedenfalls wird sie daraus befreit im Alter von vier Jahren und kommt dann 1920 als kleines Mädchen nach Kanada in eine Adoptivfamilie, wo sie dann Jahrzehnte später Maroun kennenlernt. Und so entfaltet sich diese Geschichte der Familie in Kanada.
Vanessa Guinan-Bank:
Auch eine sehr süße Liebesgeschichte, die da mit drin ist.
Pierre Jarawan:
Ja, genau. Das klingt jetzt nach einem sehr schweren Thema. Ist es natürlich auch. Aber ich versuche immer, das Komische im Tragischen zu finden, so ich auch das Tragische im Komischen gerne suche. Und so gibt es viele humorvolle Passagen natürlich auch in dem Buch. Und das, was du ansprichst, ist eine, glaube ich. Und Maroun ist ja eigentlich einer historischen Figur auf eine Art nachempfunden, nämlich Manouk Manoukian. Aus dem habe ich einen Maroun gemacht. Aus Manouk wurde ein Maroun. Und mein Maroun hat eine komplett fiktive Lebensgeschichte. Aber ab dem Moment ab dem er sich in den 60er Jahren in Beirut, von Kanada aus in Beirut bewirbt, um an der armenischen Hochschule Physik zu unterrichten ab da deckt sich quasi, kommen die historischen Ereignisse rein und alles deckt sich mit recherchierbaren, belegten Ereignissen, an die sich aber niemand mehr erinnert.
Und hier sind wir bei der Lebanese Rocket Society. Manouk Manoukian in der Realität oder eben Maroun in meinem Roman ist der Gründer der Lebanese Rocket Society und das war tatsächlich eine Gruppe von Studenten und dieser Dozent im Libanon, die, angefixt vom großen Wettlauf zum Mond zwischen der Sowjetunion und den Amerikanern inspiriert, angefangen haben, kleine Raketen zu bauen, aber die waren eben so brillant, dass es ihnen am 4. August, hier sind wir wieder bei dem Datum, am 4. August 1966 ist es ihnen tatsächlich gelungen, eine Rakete zu zünden, die den Weltraum erreicht hat. Und das führte eben dazu, dass für einen kurzen Moment der gesamte Nahe Osten davon träumte, ein Araber könnte der erste Mann auf dem Mond werden.
Und das ist tatsächlich eine wahre Geschichte, die leider vergessen worden ist. Wir können nachher gemeinsam noch überlegen, woran das vielleicht liegen könnte. Aber das ist quasi der Punkt, an dem eben Fiktion und Wirklichkeit in meinem Roman miteinander verschmelzen. Also ich erzähle eine fiktive Familiengeschichte anhand zweier historischer Ereignisse und diese Rocket Society ist quasi das eine und 2020 gibt es ja noch mal einen 4. August auf Lidl's Ebene, der eben ebenfalls wichtig ist, nämlich diese große Explosion im Hafen von Beirut, bei der die Stadt großflächig zerstört wurde. Das war auch der 4. August, also das hat mich eben total erstaunt, als ich das zum ersten Mal festgestellt habe. 4. August 1966, eine Rakete im Libanon erreicht den Weltraum, es ist der Höhepunkt eines Traums.
4. August 2020, auf den Tag genau, quasi 54 Jahre später, es ist der Höhepunkt eines Albtraumes, wenn man so will. Und diese beiden Daten werden also anhand dieser Familiengeschichte verknüpft.
Vanessa Guinan-Bank:
Ja, unter anderem auch, weil die Zwillinge an dem Tag auch Geburtstag haben.
Pierre Jarawan:
Genau, deswegen ist dieser Tag für diese Familie so unwahrscheinlich und so wichtig.
Vanessa Guinan-Bank:
Also war es an der Lebanese Rocket Society auch, also was dich daran so fasziniert hat, dass es sozusagen vergessen war? Also es ist ja eigentlich ein total krasses Ereignis und erstaunlich, dass wir das nicht mehr wissen.
Pierre Jarawan:
Genau, also die Geschichte des Wettlaufs zum Mond wird uns immer als Zweikampf erzählt. Die Sowjetunion und die USA wiegeln sich gegenseitig auf, um zu schauen, wer es als erster schafft. Das ist uns in hunderten Erzählungen, Büchern, Filmen usw. erzählt worden. Das kennen wir. Aber wir wissen nicht, dass es tatsächlich eigentlich ein Dreikampf war. Und so unwahrscheinlich es eben ist, der Libanon war dieser dritte Player. Ein Land, das halb so groß ist wie Hessen von der Fläche.
Und als ich das zum ersten Mal gesehen habe, da war ich in einer Ausstellung im Haus der Kunst in München. Das war ein libanesischstämmiges Künstlerpaar, die hatten diese Ausstellung. Da ging es eigentlich um Verdrängen, Vergessen, um dieses große Überthema. Und da hing ein Foto von dem Raketenschweif an so einer kleinen Säule. Und es ging aber nicht um dieses Raketenprojekt, sondern dieses Raketenprojekt, von dem die irgendwie erfahren hatten, war für sie eine Metapher auch für dieses große Überthema Verdrängen, Vergessen, das sie mit dem Libanon als Ganzen, wenn man so will, so zusammenbringen. Und ich habe das gelesen und dachte, das ist unmöglich, eine wahre Geschichte, das wüsste ich doch, wenn der Libanon beinah auf dem Mond gewesen wäre. Und ich wusste sofort, dass das eigentlich ein Roman ist. Also das hat mich sofort fasziniert. Aber ich fand, das war eine super Anekdote, aber noch kein Roman. Mir hat irgendwas gefehlt.
Und das war 2017. Das heißt, ich habe drei Jahre lang erstmal nicht gewusst, was ich mit der Geschichte anfangen soll. Bis dann eben am 4. August 2020 dieses Ereignis in Beirut war mit dem Hafen, als da dieses Ammoniumnitrat explodierte. Und weil ich auch am 4. August Geburtstag habe, tatsächlich habe ich mich eben daran erinnert.
Vanessa Guinan-Bank:
Wirklich?
Pierre Jarawan:
Ja, genau. Also deswegen war mir das, sonst wäre mir das vielleicht nie im Gedächtnis geblieben, dass ich dachte, ah, die haben das am 4. August geschafft, diese Rakete in den Weltraum zu schicken. Da fiel mir das plötzlich wieder ein. Da dachte ich, okay, jetzt hast du irgendwie so zweimal so eine Form von Feuer, von Explosion. Einmal positiv, einmal negativ. So fing das so an zu wachsen im Kopf und dachte, ja, jetzt okay. Jetzt kann man wirklich so anhand von einer Familienchronik diese beiden Ereignisse verbinden. Und genau das macht der Roman ja dann.
Und was mich, vielleicht das noch kurz abschließend, was mich wirklich, weil du nach der Faszination gefragt hast. Ich glaube, was mich, das kann ich mir vielleicht erst sozusagen in der Rückschau heute so beantworten. Aber ich glaube, was mich damals so fasziniert haben muss, 2017, an diesem Stoff ist, ich habe, glaube ich, sofort gespürt, dass das was ist, was neu ist. Hier war plötzlich die Chance, etwas zu erzählen, was dieser ständigen Opfererzählung über den Nahen Osten entgegenläuft. Also was diese Opfererzählung nicht wiederholt.
Damit sage ich nicht, dass es nicht wichtig ist, diese Geschichten zu erzählen. Es gibt sie leider und sie müssen erzählt werden. Das ist unbedingt so. Aber es gibt eben natürlich auch diese anderen Geschichten, die wir mit Hoffnung assoziieren können. Mit, in dem Fall, Fortschritt, Selbstbestimmtheit. Das sind alles keine Stichworte, an die wir normalerweise zuerst denken, wenn wir an den Nahen Osten denken. Und hier war es plötzlich da.
Und ich glaube, das hat mich so dafür eingenommen, dass ich dachte, ja, stimmt. Hier ist Hoffnung, Selbstbestimmtheit. Hier sind ist Hoffnung, Selbstbestimmtheit, hier sind Visionen, hier sind Träume, hier ist Mut, Wagemut, all das sozusagen und ja, da wusste ich irgendwie schon, da muss was draus entstehen.
Vanessa Guinan-Bank:
Ja und mir fällt gerade das deutsche Wort nicht ein, aber so „ingenuity“, also das war ja eine sehr kleine Gruppe, die diese, also die damit angefangen hat. Genau.
Also ich finde es immer wieder spannend, wie sehr Romane historische Ereignisse einem irgendwie nahe bringen können, weil man eben so nah an den Charakteren ist und das ging mir in deinem Roman auch so, sowohl mit der Lebanese Rocket Society und all den Wünschen und der Hoffnung, die dahinter steht, aber auch mit dem Genozid an den Armeniern, wie das einem das nochmal auf eine andere Art, auch wenn man irgendwie ein Wissen von diesem Ereignis hat, nahe bringen kann.
Pierre Jarawan:
Ja, das glaube ich auch. Ich glaube, das ist die geheime Superkraft von Geschichten oder von Romanen, dass das eben möglich ist. Man muss eben nur aufpassen, dass man nicht doziert, dass es eben kein Wikipedia-Artikel in Romanform ist, sondern es steht und fällt mit den Figuren natürlich und die musst du entwickeln, die brauchen ein Innenleben, die brauchen eine eigene Geschichte, die musst du mit Seele füllen und nicht alles sollte immer nur um diese historischen Ereignisse gehen, sondern im Idealfall fragst du dich halt, wie beeinflussen diese historischen Ereignisse die Figuren vorher, aber vor allem eben hinterher, wohin führt das? Und wenn du diesen Fragen nachgehst, dann sind diese historischen Ereignisse vielleicht eben eine Kulisse und du siehst also das, was die Nachrichten dir nicht erzählen. Also ich könnte natürlich erzählen, okay, bei der Explosion im Hafen von Beirut sind fast 300.000 Menschen obdachlos geworden, 228 Menschen verstorben und so.
Aber dann sind wir im Nachrichtenmodus und diese Zahlen machen nichts mehr mit uns. Dafür sind wir alle viel zu abgestumpft inzwischen. Aber wenn ich dir eben es wie im Roman erzähle, in dem Lilith eben nach Beirut geht, zwei Wochen vor der Explosion und diese Menschen trifft, die ebenfalls voller Hoffnung sind, weil damals 2020 gab es ja diese Revolution im Libanon und alles war hoffnungsfroh.
Also auch das ist sozusagen eine Doppelung. 1966, diese Gruppe ist voller Hoffnung und Visionen. Und 2020 ist die gesamte Gesellschaft voller Hoffnung und Visionen. Und das wird erst eben durch diese Explosion im Hafen von Beirut zunichte gemacht. Wie wir heute wissen. Im Roman ist das ja so nicht zu Ende erzählt. Diese Explosion, der Roman endet ja ein paar Sekunden vorher. Weil ich diese Hoffnung ja quasi einfrieren wollte. Also ich wollte, wir konservieren noch in diesem Buch und nicht zeigen, wie sie dann so zerstört wird.
Das wissen wir ja sowieso von heute. Also das sollte nicht gezeigt werden, sondern es sollte festgehalten werden im Buch. Und genau, also ich finde es immer sehr fruchtbar, so historische Ereignisse zu verwenden, aber nicht als, sagen wir mal, Malen nach Zahlen Vorlage, die man so abarbeitet, sondern eher so mich zu fragen, wie beeinflussen die große Geschichte die kleinen Leute. So dass kann man vielleicht auf den Punkt bringen.
Vanessa Guinan-Bank:
Ja ich stelle mir das immer auch ein bisschen schwierig war, wenn man so historische Ereignisse fiktionalisiert. Also wo entscheidest du dich dass du sozusagen an den historischen Ereignissen dran bleibst und wohl du fiktionalisierst oder vielleicht sogar fiktionalisieren musst?
Pierre Jarawan:
Ja das ist eine gute Frage. Ich kann jetzt sozusagen dir keine moralische To-Do-Liste oder sowas dafür präsentieren, aber es gibt ja gute Beispiele im Roman. Also zum Beispiel, was ich niemals machen würde, wäre, sagen wir mal, nur weil es meiner Geschichte dient, ein Massaker erfinden, das nicht stattgefunden haben. Dafür gibt es zu viele historische Massaker in diesem Genozid-Kontext, die stattgefunden haben, da müsste ich jetzt sozusagen nicht auch noch hier fiktionalisieren, sondern.. Was ich aber mache, ist zum Beispiel, ich spiele gerne mit Jahreszahlen oder kleinen Gegebenheiten. Also es gibt eine Szene im Roman, an der die Familie El Shami in Beirut in den 60er Jahren, also das ist Maroun und Anoush und die Tochter Dana, die später Liliths Mutter ist, die fahren am Hafen vorbei und sehen, wie das Silo gebaut wird im Hafen von Beirut. Und das ist 1966.
Und mit dem Bau dieses Silos wurde aber eigentlich zwei Jahre später in Wahrheit erst begonnen, 1968. Aber es ist im Roman deswegen schön, das so zu machen, weil die sehen, wie das Silo gebaut wird. Und 54 Jahre später steht Lilith, also die da noch nicht geborene Enkelin, vor diesem Silo, das dann in der Explosion zerstört werden wird. Und das ist einfach sozusagen zu schön, um es nicht zu machen. Und dadurch wird die große Historie aber nicht verändert. Also ob dieses Silo jetzt 68 oder 66 fertig wurde, spielt keine Rolle. Das ist eine andere Dimension, als wenn ich irgendwie ein Massaker behaupte, wo es dann auch wirklich um große Schuldfragen geht oder auch Opfer- oder auch Tätergeschichten geht, die unnötig zu erfinden sind, weil es dieses Vorlagen ja gibt. Sozusagen, da wo es niemandem wehtut, vielleicht kann man das so sagen. Oder wo es der Historie auch nicht schadet, oder wo es auch ein Augenzwinkern bekommt. Da verändere ich gerne mal Gegebenheiten auch, um zu zeigen, wir sind hier im Roman.
Vanessa Guinan-Bank:
Ja, ich war ganz fasziniert von der Erzählstruktur und den ganzen Parallelen, die du da aufgebaut hast. Und es kam mir beim Lesen eigentlich fast so ein bisschen so reportagig vor, obwohl es ja auch gleichzeitig sehr literarisch geschrieben ist und dann habe ich aber gelesen dass du an der Filmhochschule warst und da habe ich mich gefragt ob du in Filmszenen schreibst oder denkst ja?
Pierre Jarawan:
Ja das Schöne ist an diesem Roman, das meine große Filmleidenschaft da ja eingeflossen ist. Also Lilith ist Filmemacherin, sie ist Dokumentarfilmerin. „Frau im Mond“, der Romantitel zitiert einen berühmten Stummfilm von Fritz Lang nämlich „Frau im Mond“, das war der erste Film, bei dem ein, also bei dem es um eine Reise zum Mond geht. Und das war auch der Film, in dem der Countdown erfunden wurde. Fritz Lang hat den Countdown erfunden im Stummfilm. Und Maroun sieht diesen Film im Alter von zehn Jahren, 1930, in Montreal im Stummfilmkino und ist quasi begeistert von der Idee, Raketen zu bauen.
Und ja, also die ganze Familie ist vom Film besessen. Und was aber eigentlich schön ist, das hat schon auch eine strukturelle Befandnis, weil es mir ganz viel ermöglicht hat. Also eigentlich kannst du ja mit einer Ich-Erzählerin keine 100 Jahre erzählen, es sei denn, du hast eine 100-jährige Ich-Erzählerin, was der Roman ja aber nicht hat, sondern er hat eine Mitte-30-Jährige, die uns aber plötzlich, also die fröhlich durch die Jahrzehnte springt, die mal 1950 ist, mal 1960, die das einfach so macht. Und ich hab eben festgestellt, es funktioniert wenn man diese Verfahren bloßlegt. Also Lilith thematisiert ganz oft, was sie da macht und deswegen funktioniert das. Wenn sie es einfach machen würde dann würden wir beim Lesen ganz oft glaube ich stocken und sagen, wie kann das denn jetzt, wie kann sie das jetzt erzählen.
Aber es gibt ganz oft so Momente, wo sie sagt, ja wisst ihr, eigentlich ist es ja Aufgabe des Cutters oder der Cutterin im Film unsichtbar zu bleiben, der Film muss immer so geschnitten werden, dass es den Lesenden nicht auffällt aber aus Erzählzeitgründen präsentiere ich euch jetzt eine Bildungsaufstiegsmontage und dann fasst sie eigentlich zehn Jahre im Leben ihres Großvaters in einem Absatz zusammen, indem sie sagt, wir sehen wie er lernt, wir sehen, oh jetzt ist ihm ein Bart gewachsen, hier Blüten am Baum, Blüten fallen ab, wieder ein Jahr vergangen. So ein Leben, in dem eigentlich nicht, also in diesen zehn Jahren, in denen der Großvater zum Beispiel nichts groß erlebt, außer dass er lernt, um alles dafür zu tun, an die Universität zu kommen. Und wenn ich das als sozusagen klassisch erzählen würde, dann wären es 30 irgendwie langweilige Seiten, in denen das geschildert würde. Aber so bekommt es einen Witz und ich umgehe sozusagen eigentlich eine erzählerische Unmöglichkeit. Und das hat Spaß gemacht. Also dann nutzt mir das Thema Film sozusagen ganz konkret. Und solche Beispiele gibt es ja immer wieder im Roman.
Vanessa Guinan-Bank:
Im Film heißt es doch irgendwie die vierte Wand durchbrechen? Oder die dritte Wand?
Pierre Jarawan:
Genau, die vierte. In Theater ist das, glaube ich.
Vanessa Guinan-Bank:
Ah, oder Theater. Ich fand auch, und gleichzeitig hatte die Erzählung auch was Märchenhaftes. Also so insbesondere die Rückblenden. War das auch, hast du da auch die Märchen sozusagen einfließen lassen?
Pierre Jarawan:
Ja, es gibt ja sogar auf Handlungsebene ganz konkreten Märchen, ein armenisches Märchen, das ganz, ganz wichtig dann für die Handlung wird am Schluss. Ja, also, märchenhaft trifft es vielleicht hier und da schon. Das habe ich dann gar nicht so sehr im Kopf beim Schreiben. Ich mag so dieses ins Poetische gehen. Wenn es dann ins Poetische geht, vielleicht würde ich es so beschreiben.
Es gibt da zum Beispiel eine Szene, wo Marun im Altenheim im Garten steht und plötzlich klingelt dieses Notfalltelefon an der Wand. Das ist eigentlich kein Telefon, mit dem man telefonieren kann, aber es klingelt und er geht ran und es ist eine Frau dran, die klingt wie seine verstorbene Frau. Und in dieser Szene, das wird auch nicht aufgelöst, es ist einfach nicht klar, hat sich da jemand verwählt oder ruft da wirklich sozusagen der Geist der Großmutter an? Solche Szenen gibt es im Roman. Aber dadurch, dass es nicht aufgelöst wird, könnte es sozusagen entweder was, man könnte es märchenhaft nennen oder eben vielleicht auch magisch-realistisch, wenn man will. Oder es ist einfach sozusagen, hat sich jemand verwählt und es gibt eine ganz einfache Erklärung dafür. Aber sowas mache ich ganz gerne, ja, das stimmt.
Vanessa Guinan-Bank:
Ja, vielleicht zum Schluss. Ich glaube, wir müssen langsam schon zum Schluss kommen. Also ich war tatsächlich selber in Beirut, als diese Revolution anfing, 2019, und fand erstaunlich, wie du die Stimmung eingefangen hast. Hast du da zu der Zeit auch dort Zeit verbracht? Oder wie kam das?
Pierre Jarawan:
Also ich kenne Beirut natürlich extrem gut. Meine Familie ist ja im Libanon väterlicherseits. Ich habe noch alle Verwandten dort auf dieser Seite und kenne das Land seit vielen Jahren. 2020 war ich nicht dort. Da erschien mein zweiter Roman im Frühjahr und ich war mit dem Roman, da war eine Lesereise geplant und dann war ja auch die Pandemie und so weiter. Das heißt, das war schwierig.
Aber, ich hab das natürlich extrem genau verfolgt, auch über WhatsApp-Nachrichten meiner Cousins und so weiter, die dann immer so Jubelbilder geschickt haben, wie sie da in diesen Menschenmengen standen. Und das war ja alles sehr unglaublich und sehr groß auch. Also das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen, wie viel oder wie nah die da möglicherweise wirklich an dem Umsturz dran waren. Das wäre wirklich unglaublich gewesen, diese ganze korrupte Elite, die seit Jahrzehnten das Land kaputt gewirtschaftet hat, plötzlich irgendwie aus der Politik zu fegen. Und ja, das sollte nicht sein, das hat nicht geklappt, aber ich erinnere mich schon noch sehr genau an die Stimmung und das dann auch über Gespräche nochmal aufleben zu lassen, um das dann im Roman schildern zu können, das war natürlich wichtig.
Vanessa Guinan-Bank:
Im Libanon kommen auch noch andere Familiengeschichten, also die sozusagen parallel laufen zu den El Shamis da rein. Und genau, vielleicht klang es jetzt so ein bisschen so, als ob es nur um ernste Themen ging, aber ich fand, es waren auch sehr gefühlvolle und komplexe Charaktere, dass ich traurig war sie zu verlassen, als das Buch zu Ende war.
Pierre Jarawan:
Das ist das schönste Kompliment eigentlich. Ja, also, das wäre jetzt ein Fehler zu glauben der Roman – also für die, die ihn nicht gelesen haben – der Roman würde sich jetzt sozusagen rein an diesen historischen Ereignissen aufhängen. Also es ist eine ganze, wer große Geschichten mag, die groß erzählt sind, in dem Fall eben 100 Jahre, drei Generationen und alle Figuren lernt man sehr intensiv kennen, über 500 Seiten, der ist da, glaube ich, ganz gut aufgehoben. Es gibt auch ein sehr überraschendes Ende, glaube ich, und zwischendurch auch mal was zu lachen. Und ja, ich glaube, wer gerne in Büchern versinkt und irgendwie gerne andere Städte sieht, in dem Fall Montreal und Beirut, der könnte sich da ganz gut aufgehoben fühlen.
Vanessa Guinan-Bank:
Ja, das glaube ich auch. Vielen Dank, Pierre Jarawan.
Pierre Jarawan:
Ja, danke für die Einladung.
Vanessa Guinan-Bank:
Und für alle, die jetzt angefixt sind, „Frau im Mond“ ist im Berlin Verlag erschienen. Und das war's von mir. Bis zum nächsten Mal.
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Der Text wurde KI-gestützt transkribiert.