Ich habe bis vor ein paar Jahren geglaubt, dass man alles erzählen kann. Wenn es wahr ist oder wichtig, wenn es relevant ist. Irgendwie. Auch Adina Scheijbal denkt das. Wenn sie sich nur genug anstrengt, wenn sie kein Theater macht: „Theater kann sie sich nicht leisten. Wer eine Aussage macht, muss präzise sein.“
Adina, die zentrale Figur in Antje Rávik Strubels Blaue Frau, ist vergewaltigt und gefoltert worden, und fürchtet nun, dass niemand ihr glaubt. Das ist einerseits seltsam, denn es gibt keinen vernünftigen Grund, Adinas Aussage anzuzweifeln – und zugleich überaus gewöhnlich, denn viele Menschen haben diese Erfahrung bereits gemacht. Aber warum ist das so? Warum werden die Aussagen von Menschen, denen gravierendes Unrecht widerfahren ist, so oft angezweifelt oder bagatellisiert, geleugnet oder überhört?
„Was waren das für Verhältnisse“, fragt gegen Ende des Romans auch Kristiina (die politische Aktivistin, die Adina glaubt und sie unterstützt – trotz der negativen Konsequenzen, die auch ihr dadurch drohen), „Was waren das für Verhältnisse, die eine junge Frau auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch einen Rückzieher machen ließen im Glauben, ihr Recht nicht einfordern zu können angesichts der allseits eingeübten Bevorteilung von Männern, in der sich jede Gesellschaftsform, jede Religion und jede Hautfarbe gleichen.“
Was waren, was sind das für Verhältnisse … Kann man von „den Verhältnissen“ überhaupt literarisch erzählen und wie soll das gehen, wenn die Leser:innen, an die sich die Erzählung richtet, Teil der Verhältnisse, also Teil des Problems sind? „Mit welchen Bildern und Erzählungen“, fragt Carolin Emcke in ihrem Buch Ja heißt ja und … können wir auch diejenigen erreichen, die diese Geschichten „bislang nicht wahrhaben oder nicht ernst nehmen wollten, mit welcher Sprache, mit welchem Gestus lassen sich auch diejenigen berühren, die nicht berührt werden wollen …?“
Antje Rávik Strubel zeigt mit Blaue Frau, wie ein solches Erzählen gelingen kann. Mit einem Roman, der das Erzählen in jeder Zeile, in jedem Detail ernst nimmt. Die „Verhältnisse“ erhellt dieser Roman wie nebenbei, weil es immer einen phantastischen, einen literarischen Überschuss gibt in diesem Text, in dessen Zentrum weniger die „Tat“ steht als die Sprachlosigkeit, in die sie eingebettet ist.
Adinas Versuche, für das ihr widerfahrene Unrecht Gehör zu finden, sind in diesem Text nicht nur etwas, das der Vollständigkeit halber miterzählt wird, und deswegen beginnt der Text auch genau dort, wo Adina auf abenteuerliche Weise gelandet ist und eine Aussage machen will – in Helsinki. Dann erst begleiten wir Adina, die aus einem tschechischen Dorf stammt, in dem sie die einzige Jugendliche war und sich als „letzten Mohikaner“ bezeichnete, über Berlin (wo sie einen Sprachkurs macht und der Fotografin Rickie begegnet) zu dem Gutshof an der polnischen Grenze, auf dem sie ein von Rickie vermitteltes Praktikum macht und schließlich von einem Kulturfunktionär vergewaltigt und gefoltert wird. Diese Vergewaltigung ist ein Wendepunkt in Adinas Leben – aber nicht in dem Text, der davon erzählt. Als Leser:innen wissen wir schon lange vorher, dass es dazu mit einer gewissen Zwangsläufigkeit kommen wird. Die Frage, die unsere Spannung weckt, ist nicht die nach Adinas Glaubwürdigkeit (daran kann es keinen Zweifel geben), sondern ob sie ihre Aussage machen wird – und ob sie dadurch tatsächlich wieder festen Boden unter die Füße bekommt. Denn das macht ein Trauma aus: Es beraubt uns jeder Sicherheit. Alles dreht sich, schwankt und das Vertrauen, das wir eben noch in uns und andere, in die Welt und in eine gewisse Vorhersehbarkeit der Ereignisse hatten, löst sich auf.
Weil nichts mehr selbstverständlich ist, muss alles neu sortiert und eingeordnet werden. Auch für diese Notwendigkeit einer Rekonstruktion des In-der-Welt-Seins hat Antje Rávik Strubel eine überzeugende Form gefunden: Indem die Erzählerin das Erzählte über fast den gesamten Text hinweg immer wieder wie bei einer Bestandsaufnahme zusammenfasst („Das ist die Vergangenheit“ – „Das ist der Blick“ – „Das ist die Kleidung“ – „Das sind die Gewohnheiten“), konfrontiert sie uns auf eine so subtile wie indirekte Weise damit, dass es einer solchen Wiederaneignung immer bedarf, wenn Unerhörtes geschehen ist. Das Gefühl, dass sich alles irgendwie erzählen lassen müsse, bedeutet im Umkehrschluss auch: Wir haben etwas falsch gemacht, solange uns keiner glaubt. Dass Erzählen ein kommunikativer Prozess ist und es nicht immer der Fehler oder gar „die Schuld“ der Erzähler:in sein muss, wenn eine Geschichte, eine Aussage auf Unverständnis oder Zweifel stößt – das habe ich erst durch die Geschichten anderer begriffen. Es war für mich eine wichtige Erkenntnis. Auch Blaue Frau von Antje Rávik Strubel vermag sie zu vermitteln.
Jutta Reichelt
wurde 1967 geboren und lebt als Schriftstellerin und Geschichtenanstifterin in Bremen. Sie schreibt Romane, Erzählungen, literarische Essays und bloggt Über das Schreiben von Geschichten. Für unterschiedliche Institutionen entwickelt und leitet sie Schreibwerkstätten und -projekte, darunter auch zwei Schulhausromane, die unter ihrer Leitung für das Literaturhaus Bremen entstanden sind. Jutta Reichelt wurde für ihre schriftstellerische Arbeit bereits mehrfach ausgezeichnet, zuletzt 2020 mit dem Projektstipendium der Freien Hansestadt Bremen für die Fertigstellung ihres aktuellen Schreibprojektes mit dem Arbeitstitel Lebensgeschichtslosikeit – eine autobiografische Annäherung.