#116 Peter Reichenbach: „Fahrradfahren ist Welterweiterung“ [27:13] 

02. Juli 2025

Peter Reichenbach
© Bettina Theuerkauf

Wieso ist Radfahren eigentlich so toll? Und wieso lässt es sich so gut darüber philosophieren? Um diese Fragen geht es im Gespräch mit Verleger Peter Reichenbach. Zusammen mit Jesús Ilundáin-Agurruza und Michael W. Austin hat er im Hamburger mairisch Verlag ein Buch herausgegeben, das sich diesen Fragen widmet: Die Philosophie des Radfahrens. In der neuen Folge mit Anna Maria Stock steigen wir also aufs Rad, werfen unsere Denkmaschine an und sprechen über Einfachheit, Balance, Erfahrung und andere Dinge, die das Radfahren ausmachen.

Zum Nachlesen

Anna:
Diesmal mit Anna Maria Stock. Hallo und willkommen zur neuen Folge. Heute wird es sportlich. Wir steigen nämlich aufs Fahrrad. Also nicht wirklich, aber im Kopf. Denn wir wollen hier im Podcast schon lange mal was zum Radfahren machen. Und zum Thema Radfahren gibt es im mairisch Verlag ein ganz tolles Buch. Es heißt „Die Philosophie des Radfahrens“ und Mitherausgeber des Buches ist Peter Reichenbach. Und der ist jetzt hier bei mir. 

Peter:
Hallo. 

Anna:
Hallo Peter. Wir sitzen hier in den Räumen des mairisch Verlags in Hamburg-Eimsbüttel. Den Indie-Verlag gibt es seit 1999. Und du, Peter, hast den mitgegründet. Das Buch, über das wir heute sprechen, ist zwar kein neues, aber hat, wie ich herausgefunden habe, eine gewisse Bedeutung in eurer Verlagsgeschichte, weil es nämlich euer erstes Sachbuch war. Stimmt das so? 

Peter:
Ja, das stimmt. 

Anna:
Das war 2013. Und „Die Philosophie des Radfahrens“: Der Titel legt nahe, es geht ums Philosophieren und ums Radfahren, ums Philosophieren über das Radfahren. Aber es geht vor allem um die Frage, wieso Radfahren eigentlich so toll ist. Und das will ich dich jetzt auch erst mal fragen. Du hast ja dein Fahrrad hier neben uns stehen. Wieso ist Radfahren eigentlich so toll? 

Peter:
Okay, wenn das jetzt so leicht zu beantworten wäre, dann bräuchte man das Buch wahrscheinlich nicht. Aber ich kann ja mal erzählen. Also dieses Buch ist tatsächlich so entstanden, dass mein Verlagskollege Daniel Beskos und ich, als wir hier nach Hamburg gekommen sind, uns Rennräder gekauft haben. Wir sind, glaube ich, zum ersten Mal Rennräder gefahren und haben auf einmal gemerkt, wow, ist ja eine ganz andere Welt, Fahrradfahren mit einem Rennrad, und man ist super schnell überall. Also das war sofort ein ganz anderes Gefühl. Und ja, wir sind natürlich Büchermenschen und haben dann geguckt, was gibt es eigentlich für Bücher zum Thema Radfahren und haben dann gemerkt, es gibt eigentlich nur Schneller-Höher-Weiter-Bücher oder halt über Strecken, aber ganz wenig über die Kultur des Radfahrens und auch genau, also über deine Frage, warum macht es uns eigentlich so viel Spaß? Und haben dann halt dieses Buch gefunden im englischsprachigen Raum und es dann übersetzt und noch deutsche Autor:innen dazu gesucht. 

Anna:
Das war für mich auch ein bisschen schwierig. Ich wollte was zum Radfahren suchen und man findet dann viele Reiseführer zum Radfahren, aber so wirklich über die Kulturgeschichte des Radfahrens gibt es – im deutschsprachigen Raum zumindest – nicht so viele Bücher und insofern halt auch nicht so viele potenzielle Gesprächspartner:innen für uns. Deswegen freue ich mich, dass wir jetzt über euer Buch sprechen. Wie oft bist du denn mit dem Fahrrad unterwegs? 

Peter:
Jeden Tag. Also ich betreibe Radsport. Ein alter Bekannter von mir, der ist jetzt hier in den Marsch- und Vierlanden, und hat da einen Gemüsebauernhof eröffnet. Das sind 65 Kilometer und er hat da super Gemüse. Das ist genau meine Trainingsrunde. Da fahre ich jetzt zweimal die Woche hin und hole mein Gemüse und ansonsten fahre ich natürlich auch jeden Tag ins Büro. Ich habe ein Lastenfahrrad, mit dem fahren wir zum Teil auch unsere Bücher aus. Also ja, ich sitze mehr auf dem Rad, als dass ich gehe.

Anna:
Aber nicht mehr als du liest?

Peter:
Halbe-Halbe, würde ich sagen.

Anna:
lacht Philosophieren bedeutet ja oft, dass man Dinge erstmal genau beschreibt. Eine meiner Lieblingsstellen in dem Buch ist in dem Aufsatz „Radfahren lernen“ von Peter M. Hopsicker. Und der beschreibt ganz genau, wie das Radfahren eigentlich funktioniert und greift dabei auch auf Worte von Mark Twain zurück. Und der wiederum hat geschrieben: Das Prinzip Radfahren funktioniert so, dass man, wenn das Rad nach rechts kippt, man nach rechts lenken muss, obwohl einem die Intuition sagt, nach links zu lenken. Und das macht es eben am Anfang zu einer ganz komischen Erfahrung, weil es so kontraintuitiv ist. Ich bin schon Tausende Kilometer auf dem Fahrrad gefahren, aber ich habe mir darüber noch nie Gedanken gemacht. Wie geht das eigentlich mit dem Fahrradfahren? Wie funktioniert das eigentlich? Also ein richtiger Aha-Moment. Gab es für dich bei diesen Aufsätzen irgendwo auch so einen Aha-Moment, bei dem du dachtest, da habe ich mir noch nie Gedanken drüber gemacht? 

Peter:
Also genau, den Artikel finde ich auch total super. Das mochte ich auch total gerne. Ich glaube, in dem Artikel kommt auch vor, dass in dem Moment, in dem der Autor dann selber Rad fährt, er auf einmal merkt, dass das Haus, in dem er wohnt, eigentlich an einer Steigung liegt. Und das ist ihm vorher überhaupt nicht aufgefallen. Und merkt es eigentlich erst durchs Fahrradfahren. Und ja, ich glaube, das das vielleicht auch die Essenz des Buches ist, könnte man sagen, dass Fahrradfahren einen dazu bringt, relativ schnell und leicht seine Welt zu erweitern. Also sowohl körperlich, aber auch über die Distanz. Also man wird superschnell viel fitter. Man fährt auf einmal Strecken, da dachte man, würde man niemals hinfahren. Ich merke das auch gerade bei meinen Eltern. Die haben sich E-Bikes gekauft vor ein paar Jahren. Die benutzen das Auto überhaupt nicht mehr. Und die fahren in Orte, da wären sie früher überhaupt nicht hingefahren. Das machen sie aber auf einmal. Und ich glaube, das ist auch das, was am Ende Spaß macht. Diese Art von Horizonterweiterung, Welterweiterung, Selbsterfahrung auch, die in dem Fahrrad steckt. Ich glaube, das kann man durch ganz viele andere Sachen auch erfahren. Aber das Fahrrad macht es einem so leicht, weil man einfach nur aufsteigen muss. 

Anna:
Lass uns vielleicht nochmal ganz allgemein in das Buch gucken. Das Buch versammelt ja 19 Aufsätze. Worum geht es, im Groben zusammengefasst, in diesen Aufsätzen? 

Peter:
Also es gibt politische Artikel. 2013 war gerade in Deutschland Critical Mass ein ganz großes Thema. Das ist, glaube ich, ein bisschen… Das gibt es nicht mehr ganz so stark. Aber das Thema ist natürlich weiterhin aktuell. Also die politische Dimension, die das Fahrrad immer schon hatte, seit der Erfindung, würde ich sagen. Dann gibt es diese philosophische Herangehensweise, was, glaube ich, ein bisschen in Richtung Welterweiterung geht. Und auch super viel Radsport, was ich inzwischen gar nicht mehr so spannend finde. Also ich glaube, heutzutage würde ich das Buch anders machen. Aber ja, der Radsport bietet auf der philosophischen Ebene so ein paar ganz spannende Fragen. Mit Doping fahren oder ohne, das ist vielleicht so eine. 

Anna:
Das fand ich auch einen philosophisch sehr starken Artikel. Also dieser Artikel, in dem der Autor Argumente beschreibt von Menschen, die sagen, naja, man könnte doch Doping auch zulassen. Wie er diese Argumente nach und nach widerlegt und dann am Ende nochmal sein eigenes großes Argument bringt, wieso Doping wirklich verboten gehört und wieso es einfach besser für alle ist, wenn Doping verboten ist, das fande ich sehr philosophisch. Also es war wirklich handwerklich sehr klassisch-philosophisch ein schöner Artikel.

Peter:
Ja, finde ich auch, genau. 

Anna:
Ich habe mir jetzt was überlegt. Und zwar kommen in diesem Buch immer wieder Grundgedanken zum Radfahren vor. Und ich habe davon jetzt einfach mal ein paar mitgebracht. Und ich sage die jetzt gleich und du guckst einfach mal, was dir spontan dazu einfällt. Dann kommen wir darüber ins Gespräch, wenn du magst. Bist du bereit? lacht Also die erste ist: Radfahren bedeutet Einfachheit. 

Peter:
Ja, auf jeden Fall. Da kann ich auch nochmal einen super Text in dem Buch empfehlen von Maximilian Probst, der für den Artikel unter anderem auch den Clemens-Brentano-Preis gewonnen hat. Was ja unfassbar ist eigentlich. 

Anna:
Für diesen Artikel? 

Peter:
Genau, für den Artikel. In dem er auch sagt, dass es im Prinzip die letzte Erfindung der Menschheit ist, die noch 1:1 ist. Also man tritt und die eigene Muskelkraft bringt einen dazu, das zu sehen, was gerade passiert. Wer sich ins Auto setzt, sitzt in irgendeinem Käfig und kann mit den Fußspitzen 100 fahren. Es ist alles abstrakt. Es ist alles ganz weit weg. Mit dem Fahrrad kann man jederzeit anhalten. Man ist in der Natur. Man ist immer selbstbestimmt. Und diese Art von Einfachheit ist total toll. Und das kann man ja auch noch weiterführen. Es ist vergleichsweise günstig. Man kann es reparieren. Also das ist bei mir auch noch beim Radfahren dazugekommen: Ich habe zwei riesen Kisten Werkzeug. Ich liebe Reparieren. Auch nochmal so eine neue Welterweiterung, die auch durch das Radfahren bei mir definitiv dazugekommen ist.

Anna:
Ja, das ist nochmal ein anderer Aspekt von Technik am Fahrrad… Das, was du gerade gesagt hast von Maximilian Probst, da ist seine Formulierung, dass es „die letzte humane Technik“ ist. Die letzte Technik „ohne Umschlag in die Katastrophe“. Also weil es eben ja doch noch so nah an uns ist, dass wir damit nicht die Umwelt zerstören und so weiter. Und uns selber gefährden. Oder vielleicht nicht so viel gefährden wie mit dem Auto.

Peter:
Ja genau.

Anna:
Die zweite: Radfahren ist Naturbegegnung. 

Peter:
Ja, stimmt auf jeden Fall. Kann ich auch wieder aus meiner eigenen Erfahrung sagen. Also diese Tour zu meinem Gemüsehändler. Was ich da für Vögel sehe, und Tiere! Überhaupt, dass ich die Jahreszeiten wieder wahrnehme. Ich habe gemerkt, vor dem Radfahren: Man ist in der Stadt, man setzt sich in die U-Bahn, man kommt raus, geht ins Büro. Man weiß überhaupt nicht, was ist eigentlich für Wetter so. Und das weiß ich jetzt wieder ganz genau. Ich weiß, wann die Sonne kommt, wann sie untergeht, all diese Sachen, der Wind. Ja, das spürt man auf dem Fahrrad einfach alles viel unmittelbarer.

Anna:
Die nächste kleine These aus dem Buch: Radfahren ist Erfahrung. 

Peter:
Überlegt. Ja, da fällt mir glaube ich spontan nichts zu ein. Erfahrung…?

Anna:
So im ganz wörtlichen Sinne ja auch, dass man sich die Welt erfährt? Und dass man sie vielleicht nochmal anders erfährt?

Peter:
Genau, ja, das auf jeden Fall. Also das meinte ich auch vorhin, dass man die Umgebung kennenlernt. Also für mich jetzt auch wieder Lauenburg, Lübeck, all diese Orte, in die wäre ich vielleicht gefahren. Jetzt bin ich relativ oft da. Hätte ich nicht gedacht. Also ja, man erfährt es auf jeden Fall. 

Anna:
Und: Radfahren ist die Fähigkeit, Balance zu halten.

Peter:
Ja, finde ich gut. Stimmt auch. Und ich glaube, das kann man auch nochmal auf, ja… Ich weiß nicht, ob es vielleicht zu weit hergeholt ist, aber ich habe schon das Gefühl, dass man jetzt nicht nur Balance auf dem Fahrrad hält, sondern dass man auch ausgeglichener wird. Vielleicht Balance auch in dem Kontext. Ja, also würde ich schon sagen, dass man merkt, dass man mit der Umwelt anders umgehen muss, dass man merkt, dass man auch mit den anderen Verkehrsteilnehmern anders umgehen muss, dass man auch dort ausgeglichener wird. 

Anna:
Da gibt es ein schönes Zitat. Das ist von Steven D. Hales, von dem amerikanischen Philosophie-Professor, der auch einen Aufsatz geschrieben hat in dem Buch. Und der sagt – oder schreibt: „Im Kleinen entspricht die Situation des Radfahrens der des Menschseins im Allgemeinen – wir selbst müssen herausfinden, wie wir leben wollen, was wir erreichen wollen und wie wir das bewerkstelligen können.“ Das ist ja eigentlich auch das, oder? Also die Fähigkeit, Balance zu halten, lässt sich auch auf das Leben übertragen.

Peter:
Ja, gutes Zitat, finde ich auch. 

Anna:
Das ist in dem Buch ja ganz oft so, dass viel vom Radfahren dann auf das Leben an sich bezogen wird. Das finde ich irgendwie total schön. 

Peter:
Ja, finde ich auch. Das ist ja die Idee der ursprünglichen Herausgeber, dass man eigentlich über alltägliche Erfahrungen auch ganz viel über Philosophie lernt. Das geht mir zumindest so. Ich habe bei diesem Buch… Und wir haben ja auch noch weitere gemacht danach, also „Philosophie des Kletterns“ zum Beispiel. Ich glaube, in dem Buch habe ich vielleicht mehr gelernt, als in meinem Philosophie-Studium. Nicht ganz, aber schon in die Richtung. Es ist viel nahbarer. Also deswegen: Wer für Philosophie einen ersten Einstieg haben will, ich glaube, für den sind diese Bücher schon ganz gut. 

Anna:
Ja, aber ich glaube auch nicht nur. Also gerade Menschen, die vielleicht Freude haben an diesen sehr lebensnahen Philosophien, für die sind diese Bücher glaube ich genau richtig. Du hast jetzt ja gerade schon erwähnt, dass eine ganze Reihe dann daraus entstanden ist und das ja eine ganze Reihe begründet hat: „Philosophie des Singens“, „Philosophie des Kochens“, „- des Gärtnerns“ glaube ich, habt ihr auch. Was ist denn das Spannende an dieser sehr lebensnahen Philosophie, einer Philosophie, die so nah ins Leben greift? 

Peter:
Also ich glaube zum einen, dass sie, wie soll ich sagen… Ich glaube, dass die Meinung von vielen Leuten ist, dass Philosophie abstrakt sein muss. Und das ist sie ja auch ganz oft. Das heißt aber nicht, dass sie besonders gut ist. Und ich glaube schon, dass eigentlich diese total nahbare Philosophie… Ja ich finde ja auch zum Beispiel Aristoteles oder so, das sind ja eigentlich die Philosophen, die kann man jetzt auch noch total gut lesen und die sind total nahbar. Und warum sollte Philosophie das nicht sein? Und also deswegen… Das macht das glaube ich so spannend, würde ich sagen. 

Anna:
Ja, es gibt ja einfach auch so einen komischen Glaubenssatz, also innerhalb der Philosophie, glaube ich, dass Philosophie, oder diese Texte, dass die immer so schwer sein müssen, dass es anstrengend sein muss, sie zu lesen. Aber nein, muss es überhaupt nicht. Das merkt man eben auch an diesem Buch zum Beispiel, was ihr da herausgegeben habt. 

Peter:
Ja, genau. 

Anna:
Was braucht es denn, damit so eine Philosophie weder, ich sage mal, zu steif und zu kompliziert wird, noch aber in so was Oberflächliches abdriftet? Das ist ja auch ein Vorwurf, den die akademische Philosophie oft der Populärphilosophie gegenüber macht, dass es dann zu oberflächlich sei und gar nicht richtig in die Tiefe gehe. Also was braucht es denn, damit das viele Menschen erreicht und es trotzdem eine gewisse Tiefe hat? 

Peter:
Weiß ich auch nicht so genau. Meine These ist, dass in dem Moment, in dem von ehrlichen Erfahrungen berichtet wird, die dann in Bezug gesetzt werden zu philosophischen Themen, dass es dann stark wird. Auf den Band geguckt, sind das die Texte, die gut funktionieren, finde ich zumindest.

Anna:
Stimmt, ich glaube, es gibt ein paar Ausnahmen, aber fast alle fahren ja selber total begeistert Rad und die erzählen dann, schreiben dann von Erfahrungen, die sie machen und bringen das in Verbindung mit einer philosophischen Theorie zum Beispiel, einer philosophischen These. Und das stimmt, das wird natürlich dadurch glaubwürdiger, dass sie ihre eigenen Erfahrungen beschreiben und auch eine Begeisterung vermitteln dafür. 

Peter:
Genau, und ich glaube auch, man selbst merkt ja auch, ob der- oder diejenige das erfahren hat, was sie gerade schreibt und wo der Ausgangspunkt ist. Also das Beispiel, das wir vorhin hatten mit dem, der dann sagt, oh Gott, mein Haus liegt ja an einer Steigung, das habe ich gar nicht gewusst, das ist natürlich auf so einer phänomenologischen Ebene super spannend. Und da merkt man, da kommen Lebenswirklichkeiten und Philosophie zusammen. 

Anna:
Ja, total, das passiert ganz schön oft in diesem Buch… Was habe ich denn hier noch? Radfahren ist Emanzipation.

Peter:
Lacht. Ja, auf jeden Fall. Also ich habe gerade vorgestern, deswegen erzähle ich es jetzt, im japanischen Fernsehen einen Bericht gesehen über die Mamacharis. Weiß nicht, ob man die kennt, das sind so Fahrräder. In Japan sind das 80 Prozent aller Fahrräder. Das sind Fahrräder mit so einem tiefen Einstieg, vorne ein Riesenkorb, hinten Kindersitze, zum Teil mehrere. Und das Interessante ist, dass die Fahrräder erfunden wurden, nachdem es in Japan einen Motorradboom gab und niemand mehr Fahrrad gefahren ist. Vorher war Fahrrad so ein Männerding, es sind nur Männer Fahrrad gefahren. Auf jeden Fall hat dieses Fahrrad alle Frauen dazu gebracht, Fahrrad zu fahren und das hat sie natürlich… Sie konnten den Weg zur Arbeit leichter bewältigen, sie hatten mehr Zeit für sich. Also es ist ein riesen emanzipatorischer Fortschritt gewesen und heutzutage fahren auch die Männer diese Fahrräder, also es ist jetzt überhaupt kein so komisches Ding. Und ich glaube, Geschichten wie diese gibt es super viele. Bei uns im Verlag gibt es ja noch ein anderes Buch, „Revolutions“ heißt es, von Hannah Ross. Da sind Beispiele, nicht das, aber Beispiele dieser Art, von den Suffragetten bis… Also alle möglichen Leute, wo man immer wieder gemerkt hat, okay, das Fahrrad hat die Leute dazu gebracht, aus ihren vier Wänden rauszukommen, hat sie dazu bewegt, ja, was anderes zu machen. 

Anna:
Und das Fahrrad war da immer ein ganz zentraler Punkt. Ich glaube ja gerade auch in der Frauenbewegung, zum Beispiel, was Klamotten anging. Ich weiß nicht genau, wie das so war, aber jedenfalls hat diese Tatsache, dass man auf dem Fahrrad nicht so gut Kleider und Röcke tragen konnte, auch mitunter dazu beigetragen, dass Frauen dann auch eher Hosen getragen haben oder kürzere Röcke oder so.

Peter:
Ja genau, auf jeden Fall, ja. 

Anna:
Und das ist tatsächlich auch ein Kritikpunkt, den ich hätte an dem Buch. Es gibt relativ wenige Frauen, die da schreiben. Es sind ja, glaube ich, von den 19 Leuten, die da schreiben… Oder, nein, es müssten ja ein bisschen weniger sein, weil es sind mehr Artikel. Naja, jedenfalls sind es nur vier Frauen. Also es sind relativ wenige, die da zu Wort kommen. Spiegelt das auch ein bisschen die wenige Repräsentanz von Frauen im Radsport wider? 

Peter:
Also 2013 vielleicht, würde ich sagen, hatte ich zumindest auch noch nicht so den Fokus darauf. Meine persönliche Wahrnehmung ist auch, dass viel weniger Frauen Fahrrad gefahren sind. Ja, und jetzt, wenn ich jetzt das Buch machen würde… Also wir überlegen, vielleicht eine zweite Folge zu machen.

Anna:
Aha!

Peter:
Wenn sich jetzt jemand angesprochen fühlt, soll er sich gerne melden. Ja, also ich finde, dass super viele Frauen Fahrrad fahren und ich finde das auch einen total gerechtfertigten Gesichtspunkt. Ich habe es jetzt auch nochmal angeguckt zur Vorbereitung und habe auch so ein paar Sätze gelesen, bei denen ich dachte: Oh je, würde man heute nicht mehr so schreiben.

Anna:
Aber das ist ja auch in Ordnung. Ich meine, daran merkt man ja auch, dass halt ein bisschen Zeit vergangen ist seitdem. Wie schön, dass ihr vielleicht eine Fortsetzung plant. Was ist die Idee dahinter? Wird das auch wieder „Philosophie des Radfahrens“ Teil 2 oder habt ihr da nochmal neue Ideen? 

Peter:
Also es ist bisher nur eine Idee, aber ja, inzwischen finde ich so viele andere Aspekte, die mich interessieren. Viel weniger dieser Radsport. Deswegen glaube ich schon, dass es noch nicht auserzählt ist und auch sowas, was du jetzt gerade gesagt hast: Also es sind viel zu wenige Frauen da drin. Die Stimmen müssten eigentlich da nochmal vertreten sein. 

Anna:
Ja, bin ich gespannt, freue ich mich drauf. Stichwort: Radsport. Kann man ein Buch über den Radsport schreiben, ohne dass es dabei auch um Doping gehen muss? 

Peter:
Auf keinen Fall. 

Anna:
Und um das geht es ja auch in diesem Band. Man lernt ja auch so allerhand Stars kennen in diesem Buch, zum Beispiel Eddie Merckx oder Marco Pantani, Jacques Enquetil, von denen ich tatsächlich noch nie gehört habe, aber ich bin auch nicht so drin im Radsport. Von den Namen, die ich kannte, sind Jan Ullrich und Lance Armstrong vertreten. Von Jan Ullrich hört man, glaube ich, nur ein einziges Mal und von Lance Armstrong eigentlich auch nur so am Rande. War das eine bewusste Entscheidung, weil damals dann ja auch schon die Dopingfälle bekannt waren? 

Peter:
Also tatsächlich gab es in der Originalausgabe einen Artikel nur über Lance Armstrong, den wir zum Beispiel nicht mit reingenommen haben. Ja, und auch die Fahrer, die du jetzt gerade genannt hast, das sind natürlich auch… Da merkt man auch wieder, dass das Buch doch leider ein bisschen älter ist. Heutzutage würde man wahrscheinlich andere Radsportler nennen. Und auch Radsportlerinnen. Also ich meine, es gibt ja inzwischen die Tour de France de Femmes, die total toll ist zu gucken. Kann ich nur empfehlen. Also ich gucke die. Das ist super.

Anna:
Radfahren ist wie Radfahren. Das verlernt man nicht. 

Peter:
Ja, ist ja komischerweise so, dass, wenn man einmal drauf gesessen hat, dass man es nicht mehr verlernt.

Anna:
Ja, spricht auch wieder für das Fahrrad, würde ich sagen. Und wie kommt das denn eigentlich, dieser Spruch? Man sagt das ja immer wieder mal, das ist ja wie Radfahren. Das verlernst du nie. Das klingt ja schon ein bisschen so, als sei Radfahren irgendwie so was Pipileichtes, was man einfach halt macht. Liegt das daran, dass wir das alle eher so im frühen Kindesalter lernen und es deshalb gar nicht ohne kennen? Weil ich glaube, wenn man als Erwachsener Fahrradfahren lernt, ist das gar nicht so einfach, zumindest bis man sich wirklich sicher fühlt auf dem Rad. Das kann dann schon ganz schön schwierig sein.

Peter:
Ja, denke ich auch. Vor allem mit dem Verkehr. Ich glaube, dass der Verkehr eher das Problem ist. Also das mit dem Balancehalten, stelle ich mir vor, kann man wahrscheinlich auch noch im Alter lernen. Aber der Umgang mit den Verkehrsteilnehmern, das ist wahrscheinlich das, was dann Angst macht, würde ich sagen. 

Anna:
Ja, stimmt, gerade wenn man das in der Stadt lernt und da noch viele andere Gefahren lauern. Du hast es vorhin schon ein bisschen angesprochen. Es gibt noch andere Bücher bei euch im Programm zum Fahrradfahren. Das hier ist nicht das Einzige. Du hast „Revolutions“ von Hannah Ross angesprochen, auch eine Übersetzung aus dem Amerikanischen. Da geht es darum, wie Frauen auf dem Fahrrad die Welt veränderten. So jedenfalls habe ich das dem Klappentext entnommen. Was habt ihr denn noch im Programm? Ich glaube, ihr habt noch Bilderbücher zum Fahrradfahren?

Peter:
Genau, wir haben noch zwei Bücher für Kinder, Bilderbücher. Das eine ist „Wilde Radtour mit Velociraptorin“ von Nils Mohl und Halina Kirschner. Da geht es um einen Dinosaurier, der Fahrradfahren lernt. Sehr lustige Geschichte, die auch im Alphabet erzählt wird. Auf den Seiten werden immer wieder die wichtigsten Fahrradbegriffe erklärt. 

Anna:
Cool. 

Peter:
Das ist natürlich total super, finde ich. Und von Nils Mohl, der auch total tolle Gedichte schreibt. Es passt perfekt, finde ich, wie er das macht. 

Anna:
So ein kleines Fahrrad-ABC sozusagen, eingepackt eine Geschichte?

Peter:
Genau. Und das andere ist „Sommer auf der Fahrradinsel“. Das ist ein Buch aus dem Französischen. Da geht es um ein Mädchen, das im Sommer auf einer Insel Urlaub macht und dort Fahrrad fährt. Und auf der Insel gibt es keine Autos. Zurück in der Stadt merkt sie, dass es überhaupt nicht so toll ist mit dem Fahrrad und fährt dann zurück zu dieser Insel. Es ist ein bisschen eine Utopie, wie eine Welt ohne Fahrrad aussehen könnte. Und das Buch, das verrate ich jetzt einfach mal, spaltet so ein bisschen die Leser:innen, weil in der Mitte des Buches gibt es eine Seite, wenn man die aufschlägt, da sieht man, wie die Protagonistin Autos zerstört und auch anzündet und mit Motorsägen zersägt. Also es ist wirklich so ein Clash, ein sehr schönes Kinderbuch, aber dann bricht es einmal so auf. Das ist immer total toll, auf Märkten dann die Gesichter von den Leuten zu sehen, wenn sie diese Seite sehen und dann entscheiden, okay, finde ich das Buch toll oder finde ich es so richtig blöd. 

Anna:
Ja, das ist auf eine Art dann sehr politisch, das Buch. 

Peter:
Ja, total politisch. 

Anna:
Fahrradpolitisch. 

Peter:
Ja, total. 

Anna:
Wer weiß, vielleicht können wir uns dann ja bald auf eine Fortsetzung freuen zu dem Fahrradbuch. Wieso passen denn Radfahren und Philosophie so gut zusammen? 

Peter:
Ich glaube, dass das Fahrradfahren an sich vielleicht gar nicht so philosophisch ist, aber die Momente oder die Erfahrungen, die man mit dem Fahrrad machen kann, sind sehr philosophisch. Das ist die eine Sache. Und die andere Sache ist, Fahrradfahren, glaube ich, könnte theoretisch langweilig sein, wenn man sich nicht mit sich selbst beschäftigt. Aber ich glaube, in dem Moment, in dem man sich aufs Fahrrad setzt und den Kopf einschaltet und anfängt zu denken, ist es dann doch sehr philosophisch. 

Anna:
Ja, und wenn man dann einfach auch den Raum hat, den man im Alltag oft nicht so hat. Dann hat man mal keine Ablenkung, außer diese oft schöne Landschaft, die an einem vorüberzieht und da ist dann der Raum da zum Denken. Ich habe gerade noch im Zug die letzten beiden Artikel gelesen und da geht es ja um die Tour de France und um diese Bergetappen in Frankreich, in den Alpen. Und das fand ich auch total schön. Der eine Artikel sagte – also hat das mit John Dewey gestützt – dass wir das echte Leben in Grenzerfahrungen fühlen. In dem Moment, in dem wir Grenzerfahrungen machen, spüren wir den ästhetischen Sinn, so nennt er das, des Lebens, also dass wir einen Sinn im Leben haben. Und das überträgt er aufs Fahrradfahren und erklärt damit auch, wieso man so bescheuert ist und sich diese Tour de France-Strecken gibt als Freizeitfahrer und diesen Schmerz und dieses Leiden am Berg spürt. Und das fande ich total schön. Also ja, vielleicht machen wir das deshalb, weil wir da irgendwie spüren, dass wir am leben sind. 

Peter:
Ja, glaube ich auch. Obwohl ich da… Da bin ich tatsächlich immer so ein bisschen zwiegespalten, auch bei diesem Artikel, ob ich diese Art von bewusster Grenzerfahrung und dieses bewusste Suchen von Leiden, ob das wirklich so dazugehört, ob wir das wirklich so brauchen, weiß ich immer nicht so genau. Also ich bräuchte das jetzt nicht, aber tatsächlich ist es natürlich so, dass es beim Fahrradfahren ganz oft dazu kommt, dass man zu weit gefahren ist und nicht gut genug trainiert ist. Dass dieses Leiden dazukommt und dass man sich in irgendeiner Form damit auseinandersetzen muss. 

Anna:
Und dass man daran dann vielleicht auch wächst. Nicht immer, aber es gebietet schon irgendwie Raum zum Wachsen. 

Peter:
Vielleicht, ja, genau. 

Anna:
Ja, stimmt, wahrscheinlich hast du recht. Also es ist keine notwendige Bedingung, um das Leben zu spüren, dass man leidet. Aber es hilft vielleicht manchmal, um das Leben zu fühlen.

Peter:
Ja, vielleicht, genau. 

Anna:
Was ist denn jetzt wichtiger? Ein bisschen eine gemeine Frage zum Schluss. Radfahren oder Philosophie? 

Peter:
Überlegt und lacht. Radfahren.

Anna:
Aha, wieso? lacht

Peter:
Nein, weiß ich nicht. Ich glaube, es gehört irgendwie dazu. Also es ist, wenn man das so… Ja, wer sich auf… Überlegt. Ja, kann ich nicht entscheiden. Weiß ich nicht. Ich finde beides super. Es macht beides Spaß. Es passt gut zusammen. Also warum sollte man es trennen? 

Anna:
Genau, vielleicht müssen wir uns ja auch gar nicht entscheiden. Und ich würde gerne mit einem kleinen Absatz aus dem Buch enden, den ich total schön fande, weil der auf so eine ganz kluge, aber dann doch irgendwie relativ banale Art und Weise nochmal philosophisch auf das Radfahren blickt. Ich lese das jetzt mal vor: „Wir sausen durch eine Welt, der wir angehören und die wir zugleich verinnerlicht haben durch unser Wahrnehmen und Begreifen. Man fährt schnell, weil man schnell fährt. Der Wille zur Geschwindigkeit trägt seine Begründung und Rechtfertigung in sich selbst, unabhängig von allen Gesundheitstipps und der allgegenwärtigen Androhung der eigenen Sterblichkeit. Muskelkraft und Wohlbefinden vereinen sich im Radfahrer, der sich für sein Recht, Rad zu fahren, nicht rechtfertigen muss. Mit anderen Worten: Wir fahren, weil wir fahren und weil wir es wollen.“ Danke Peter für diese kleine Reise mit dem Fahrrad. Und wie passend übrigens – das habe ich noch gestern in der Recherche herausgefunden –, dass wir hier in Eimsbüttel dieses Interview führen, weil ich habe gesehen, zufällig, dass hier in Eimsbüttel der erste Radfahrclub der Welt gegründet wurde. Okay, so wie du guckst, weißt du davon gar nichts? 

Peter:
Ne, weiß ich nicht.

Anna:
Das habe ich gestern gefunden. Wurde 1869 von Hochradfans gegründet. „Eimsbütteler Velocipeden-Reitclub“ hieß der. Und den gibt es anscheinend immer noch, der heißt „Altonaer Bicycle Club“. 

Peter:
Sehr gut, super.

Anna:
Lustig und wie schön, dass dann hier ein Verlag sitzt, der sich so ums Fahrrad kümmert. 

Peter:
Sehr schön, freut mich, danke.

Anna:
Danke dir. Tschüss Peter Reichenbach. 

Peter:
Tschüss, danke.

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Der Text wurde KI-gestützt transkribiert.