#113 Ralf Lorenzen: "Lemke hatte eine solidarische Art, Menschen zu fördern und zusammenzubringen." [29:03]

14. Mai 2025

Ralf Lorenzen
© privat

Politik und Sport spielen sich in "Herr Lemke, übernehmen Sie!" von Ralf Lorenzen und Helmut Hafner die Bälle zu. Willi Lemke war Bildungssenator, Werder-Manager, Läufer, Netzwerker, Agent für den Verfassungsschutz, SPD-Mitglied und Sonderbeauftragter für Sport im Dienste von Frieden und Entwicklung - und einer der bekanntesten Bremer überhaupt. Über sein bewegtes Leben hat Jonas Dahm mit Ralf Lorenzen gesprochen.

Zum Nachlesen

Jonas Dahm: 
…und damit herzlich willkommen zum Literaturhaus Podcast Bremen. Heute aus Bremen Schwachhausen, die Sonne scheint, die Vögel singen und ich bin bei Ralf Lorenzen eingeladen. Der ist Autor und Journalist mit Schwerpunkt Sport und hat zusammen mit Helmut Hafner, der lange Zeit im Bremer Rathaus gearbeitet hat, ein Buch über Willi Lemke geschrieben. Den Bremer Werder-Manager, den Sonderbeauftragten für Sport, den Bildungssenator und wahrscheinlich einen der bekanntesten Bremer überhaupt. Über dessen bewegtes Leben wollen wir gleich sprechen. Ralf hat mich bei sich zu Hause eingeladen - und da setzen wir uns gleich hin und reden über Willi Lemke. Viel Spaß! ????

Ich würde gerne einsteigen, mit dem letzten Treffen, was ihr hattet, mit Willi Lemke. Es war drei Tage vor seinem Tod und es war das letzte Treffen, was ihr zu dieser autorisierten Biografie hattet. Wie macht man denn dann weiter?

Ralf Lorenzen: 
Ja, wie macht man dann weiter? Das ist natürlich erst mal ein Riesenschock. Ich glaube, ich stand gerade beim Bremer SV auf dem Platz, als Helmut mich anrief, dass da irgendwas Dramatisches passiert ist. Willi hat ja, oder Willi Lemke hat ja einen Gehirnschlag bekommen und dann noch eine Weile im Koma gelegen und ist dann am Anfang der Woche gestorben. Wir haben uns am Freitag das letzte Mal mit ihm gesprochen. Das sollte in der Tat ein Abschluss und Resumégespräch dieser ganzen langen Phase, in der wir uns immer wieder getroffen haben, sein. Da hat er auch sehr bewegt für sich noch mal ein Fazit getroffen, das dann auch sehr weit wegging vom Sportlichen und Politischen, das ja hauptsächlich auch im Zentrum des Buches steht, sondern sehr stark ins Private ging und das Familienleben in den Mittelpunkt gerückt hat. Als wir uns das dann noch mal angehört haben, war das natürlich sehr, sehr bewegend, weil wir natürlich sehr stark mit der Familie in Kontakt gekommen sind und sich natürlich die Frage stellte, können wir das Buch jetzt überhaupt fertig machen und wie weit ist die Frau von Willi Lemke, also Heide Lemke, überhaupt bereit dazu, dass wir das machen - oder auch die Kinder. Das waren alles offene Fragen und dann waren wir sehr froh, dass die Familie sehr schnell und sehr eng mit uns kooperiert hat. Das war immer eine Mischung aus Trauer über den Verlust eines Menschen, dem wir ja über die Jahre nahegekommen sind und der Aufgabe, die wir dann auch damit verbunden gefühlt haben, das jetzt auch zum Abschluss zu bringen und ihn damit auch noch mal zu würdigen.

Jonas Dahm: 
Ihr schreibt im Buch sehr schön, da kommt dann Autorenschaft und Trauerarbeit zusammen. Auf der Beerdigung, da waren Werder-Größen, da war Rudi Völler, Otto Rehhagel, es gab Beileidsbekundungen aus aller Welt, unter anderem von der Schwester von Barack Obama, von Auuma Obama. Das war am Anfang von Willi Lemkes Leben jetzt nicht abzusehen. Er kommt eigentlich aus kleinen Verhältnissen. Wie hat das mit seinem Lebensweg zu tun? Er musste ja früh auch lernen, sich durchzusetzen.

Ralf Lorenzen: 
Ja, da sprichst du jetzt ja schon den ganz großen Bogen an, den sein Leben genommen hat und den es in der Tat hatte. Man kann sagen, dass viele Motive, die er später ausgearbeitet hat in seinem beruflichen Leben, schon in seiner Kindheit und Jugend angelegt sind, aber vor allem natürlich auch dieser Überlebenskampf. Seine Familie ist eine Flüchtlingsfamilie, die 1944 erst an die Lübecker Bucht gekommen ist, als er noch nicht geboren ist, also seine Mutter mit den beiden älteren Brüdern. Der Vater war da noch im Krieg. Und diese Familie, also die Mutter und die beiden Söhne, die haben tatsächlich nochin der Lübecker Bucht die Bombardierung der Cap Arcona und der Thielbeck, eines der ganz großen tragischen Ereignisse zu Ende des Zweiten Weltkrieges, mit eigenen Augen gesehen. In diesen Schiffen waren 7.500 KZ-Häftlinge versammelt. Die Briten dachten versehentlich, auf diesen Schiffen wären SS-Größen und Nazis, die sich nach Norwegen absetzen wollten und haben die Schiffe bombardiert. Dabei sind 7.000 Menschen ums Leben gekommen. Das ist ein Erlebnis, das in der Familienerzählung und Familiengeschichte der Lemkes eine ganz große Rolle spielt und das im Endeffekt auch dazu geführt hat, dass Willi den Namen Wilfried bekommen hat, also der, der den Frieden will. Das ist der ein Teil dieser Kriegserfahrung und Erlebnisse. Das andere ist natürlich das Aufwachsen in einer zwar jetzt nicht armen Familie, aber doch in relativ bescheidenen Verhältnissen, in einem Umfeld, das dann in Hamburg schon so ein bisschen mehr Wohlstand hatte. Und das alles in dieser Kombination hat in dem jungen Wilfried zu einem sehr starken Lebenswillen, aber vor allem auch ganz, ganz massiven Ehrgeiz geführt, der sich sehr früh abzeichnet. Also so eine Art Streben nach anderem, nach Höherem. 

Jonas Dahm: 
Das ist ja die erste Verbindung zu Zeitgeschichte. In Willi Lemkes Biografie taucht sowas oft auf. Also man kann eigentlich bundesrepublikanische Geschichte erzählen - und das habt ihr auch erzählt. Das zweite wäre die Politisierung von Willi Lemke in den 70er Jahren als Teil der Studenten damals, der aber dann nicht Kommunist war, sondern SPD-nah. Wie kann man ihn einordnen in die politische Landschaft der 70er-Jahre?

Ralf Lorenzen: 
Weil du das ansprichst, dass man mit ihm so die Zeitgeschichte erzählen kann: Das ist natürlich auch ein großes Motiv gewesen, sich auf dieses Projekt einzulassen, wo ja von vornherein absehbar war, dass es sehr viel Arbeit, aber wenig ökonomischen Eintrag bringen wird. Da muss ja eine Motivlage her und die hatte natürlich damit zu tun, sich über diese sehr interessante und vielfältige Person nochmal auch mit verschiedenen Etappen der bundesrepublikanischen Geschichte zu beschäftigen, zu der natürlich dann auch die 68er-Zeit gehört, die ich als 1958 geborener natürlich auch nur als Zaungast oder als kleiner Junge mitgekriegt habe. In der hat Lemke in Hamburg zum Beispiel die große Schah-Demonstration in Hamburg mitbekommen und ist selbst auch schon an der Uni an Aktionen beteiligt gewesen ist. Zum Beispiel haben die so eine Art alternative Notstands-Olympiade veranstaltet, als Protestform gegen die damals verabschiedeten Notstandsgesetze, aber auch als Mittel, um auf die eigene Misere im eigenen Sportstudiengang hinzuweisen, in der sie gerade waren. Aber das zeigt schon wieder auch so einen pragmatischen Zugang zu allem, den Lemke immer gehabt hat, der immer dann auch in der Aktion irgendwo sehr gut war und dem der ganze ideologische Überbau, glaube ich, jetzt erstmal nicht so wichtig gewesen ist. Zum ideologischen Überbau der kommunistischen Linken damals, gerade der DDR und Moskau orientierten Linken, hatte er ein sehr kritisches Verhältnis.

Jonas Dahm: 
Und er war dann auch direkt schon jemand, der Politik mit Sport gemacht hat und Politik mit Sport verbunden hat. 

Ralf Lorenzen: 
Genau, das ist auch ein Lebensthema oder vielleicht sogar das Lebensthema, das sich durchzieht. Er hat Sport früh auch als Mittel erfahren, sich nicht nur durchzusetzen, sondern auch Selbstbewusstsein und Anerkennung zu bekommen und war erst Läufer, dann hat er es als Handballer versucht, dann als Fußballer. Die Laufkarriere von ihm ist ja legendär, dass er bis kurz vor seinem Tod noch als Läufer hier in Bremenunterwegs war und an zahlreichen Marathons teilgenommen hat. Aber das Thema hat ihn auch theoretisch interessiert, besonders im Zusammenhang mit den Ost-West-Sportbeziehungen. Mit denen hat er sich schon damals in seiner Arbeit zum ersten Staatsexamen auseinandergesetzt, auch, weil es verwandtschaftliche Verhältnisse gab in die DDR. Er wollte eigentlich Begegnungen auf eher so in-offizieller, studentischer Ebene herstellen.

Jonas Dahm: 
Du hast es gerade schon angesprochen: Er ist dann auch rübergefahren in die DDR, wollte eine sportliche Zusammenarbeit organisieren und ist darüber in eigentlich die erste skandalumwitterte Geschichte seines Lebens hineingeraten, als Doppelagent vom KGB und Verfassungsschutz. Wie kam es dazu - und wie kam er da wieder raus?

Ralf Lorenzen: 
Ja, das ist schwierig mit der Benennung Doppelagent. Eigentlich war er Agent des Verfassungsschutzes. Aber angeworben wurde er ursprünglich vom KGB auf der Rückreise von einem Laufevent in Prag, wo er eine Studentendelegation aus Hamburg begleitet hat. Da wollte er einfach, so wie er es erzählt hat, naiv in Leipzig aus dem Zug steigen und in die Uni gehen, um Kontakte zu Studenten aufzunehmen. Dort ist er von Ordnungshütern früh abgefangen worden, denen er dann seine Geschichte, sein Anliegen erzählt hat. Die haben tatsächlich einen Kontakt hergestellt zur Sporthochschule in Rostock und dort hat er eine Einladung bekommen nach Rostock und ist zuerst, wie er es erzählt hat, noch naiv guten Glaubens, dass die wirklich interessiert sind an so einer Sportbegegnung, dort hin. Er wurde dann nach und nach zu so einem KGB-Menschen weitergeleitet, der ihn dann besonders gut bewertet hat und angefüttert hat. Auf dem Rückweg hat er sich gleich dem Hamburger Verfassungsschutz offenbart, weil ihm das selbst komisch vorkam und er dachte, hoffentlich gerät er da nicht in so ein komisches Zwielicht rein. Der Verfassungsschutz wiederum hat ihn dann gebeten, diesen Kontakt weiter zu pflegen, weil in der Zeit relativ viele Studenten gerade aus dem linken Spektrum vom KGB angeworben wurden. Die wollten wissen, wie machen die das und haben ihn quasi als Köder da weiter hingeschickt. So kam es dann in den nächsten Jahren zu sechs bis acht Treffen von Lemke in der DDR, in Rostock, wo er sich dann mit KGB-Leuten getroffen hat und dann die Inhalte dieser Gespräche dem Hamburger Verfassungsschutz weitergegeben hat. 

Jonas Dahm: 
Er ist dann von Hamburg auch nach Bremen gekommen. Wie kam es zu diesem Ortswechsel? Er war dann ja relativ schnell für eine SPD aktiv. 

Ralf Lorenzen: 
Da wurde in Hamburg der Sportstudiengang ausgebaut, unter anderem als Folge dieser Notstands-Olympiade und der Proteste der Studenten. Also er war dann immer vorne an, würde ich sagen. Er hat dann relativ schnell eine Stelle gekriegt im Sportstudiengang in Hamburg und zu der Zeit wurde gerade die Uni in Bremen gegründet. Da hatte er durch Freunde gute Kontakte hin und hat sich dann sehr schnell beworben, hat diese Stelle auch bekommen und wurde dann hier Sportplaner. Er war also einer, der den Sportstudiengang in Bremen mit aufgebaut hat. In Bremen ist es dann ja nicht schwer, wenn man an der Uni in der Position ist, auch Verbindungen in Parteien zu bekommen. Gerade den Leuten um Henning Scherf ist er aufgefallen als jemand, der total aktiv ist, der Dinge machen kann. Als Macher, der damals andererseits aber auch die nötige Distanz und Entfernung zu den Kommunisten hatte. Da hat er sich frühzeitig sehr stark abgegrenzt und wurde dann zu einem interessanten Menschen für Leute, die schon in der Partei waren.

Jonas Dahm: 
Du hast das gerade so ein bisschen anklingen lassen: Bremen ist die Stadt der kurzen Wege. Das ist ein Motiv, was immer wieder auftaucht - und vielleicht erklärt das auch so ein bisschen, wie er dann aus der SPD-Politik zu Werder gekommen ist. Ihr habt das Zitat drin: “Kommerz ist wichtig, er darf aber nicht den Fußball beherrschen”. Wie kann man Lemke denn verstehen? War er dann sozusagen der Fußball-Sozi? Oder wie war seine Position als Werder-Manager?

Ralf Lorenzen: 
Ja, das ist ganz gut ausgeführt, er war der Fußball-Sozi. So hat er sich natürlich auch selbst dann später in diesen legendären Auseinandersetzungen mit Bayerns Uli Hoeneß dargestellt. Also der Fußball-Sozi gegen den Fußball-Kapitalisten. Aber natürlich sozialdemokratisch in einem reformerischen und nicht in einem revolutionären Sinne. Also: wir müssen auf den Bedingungen aufbauen, die wir haben und das ist nun mal der professionelle, kommerzielle Fußball. Da versuchen wir, möglichst viel Geld zu verdienen, möglichst gute Spieler für uns zu kaufen, aber ohne uns zu sehr an diese Kommerzmaschine zu verkaufen. Inwieweit ihm das immer gelungen ist, ist eine andere Frage. In bestimmten Fragen ist er auch dann zum Vorreiter geworden von Kommerzialisierung. Was zum Beispiel die VIP-Logen angeht in Stadien. Da ist er der erste Manager in Deutschland gewesen, der die hier eingeführt hat. Oder bei anderen Dingen, bei den Fernsehverträgen, bei der Zusammenarbeit mit Sportmarketingagenturen. Da war er eigentlich immer irgendwie relativ weit von vorne an.

Jonas Dahm: 
Lemke steht ja auch so ein bisschen für die große Zeit bei Werder, Champions League, Otto Rehhagel. Was war das Besondere bei Werder und welche Rolle hat Lemke in diesem Verein gespielt? Er war dann ja auch wirklich bekannter, als man es eigentlich von einem Fußballmanager erwarten würde.

Ralf Lorenzen: 
Die haben es allem damals hingekriegt, eine verdammt gute Arbeitsteilung zu haben. Spieler gab es sehr, sehr viele bekannte, herausragende in der Lemke-Zeit zwischen 1981 und 1999, aber das Kernführungsteam war über die Zeit immer stabil, mit einer klaren Rollenverteilung: Präsident Böhmert, das war der väterliche, gütige Mensch, der nach außen repräsentiert hat und versucht hat, immer auch ausgleichend zu wirken. Dann gab es Klaus-Dieter Fischer, lange Vizepräsident, später aber auch Präsident des Vereins, der eigentlich der wirklich mächtige Mann im Verein war, der alles von der Picke auf kennt, der jede Abteilung und jeden kannte und der mit seinem Macht- und Durchsetzungswillen viele Dinge bewerkstelligt hat. Dann gab es Manfred Müller später, der die Finanzen sortiert, organisiert hat, der eigentlich von der AOK kam. Und dann Willi Lemke, als, würde ich mal sagen Rampensau der den Verein nach vorne verkauft hat, der die Verträge ausgehandelt hat, mit den Sponsoren, mit den Spielern, der ständig präsent war und jede neue Idee gleich gewittert und umgesetzt hat. Das war seine große Qualität, denke ich, dieses unglaublich rührige, innovative und schnell Ideen zu seinen eigenen machen und umzusetzen.

Jonas Dahm: 
Und der sich ziemlich öffentlichkeitswirksam mit Uli Hoeneß eingelassen hat.

Ralf Lorenzen: 
Genau.

Jonas Dahm: 
Was hat er da gemacht?

Ralf Lorenzen: 
Ja, selten direkt, aber medial haben sie sich natürlich einige Schlachten geliefert. Es ging natürlich immer um die Frage der Kommerzialität. Lemke hat es totalaufgeregt, dass Bayern sich immer mit seinem ‘Mia san mia’ als die Speerspitze des deutschen Fußballs dargestellt hat und dass seine Ansicht nach Hoeneß viel zu hohe Forderungen gestellt hat, was Fernsehverträge usw. angeht. Auch dieses Elitäre, das hat er verbal oft attackiert. Hoeneß hat immer gesagt, ja, der Lemke tut hier so, als wenn er Sozialist ist, aber wenn es um die Kohle geht, ist er auch der Erste, der die Hand aufhält und für seinen Verein das Beste herausholt. Er hat ihm immer so ein bisschen so eine Doppelzügigkeit, eine Doppelmoral vorgeworfen. Aber medial wurde das natürlich von allen gespielt, so ein bisschen Kasperle-Theater: Hier der neoliberale Fleischunternehmer Uli Hoeneß und da der linke Sozi Willi Lemke, das passte dann auch ganz gut. Bundesrepublikanisch gesehen war natürlich außerhalb Bayerns Werder gerade in diesen Zeiten immer der beliebtere Verein.

Jonas Dahm: 
Es klang ja gerade schon so an, Lemke steht für diese große Werder-Zeit von 1981 bis 1999, dreimal DFB-Pokal gewonnen, Europapokal, der Pokalsieger, aber so ganz ohne Reibung lief es dann auch nicht und vor allem das Ende bei Werder war auch nicht ganz im Einvernehmen.

Ralf Lorenzen: 
Ja, das ist richtig, das war mit ziemlichen vielen Konflikten verbunden. Zunächst ist Lemke ja 1999 als Bildungssenator in die Politik zurückgegangen. Zur gleichen Zeit hat Werder seine Unternehmensstruktur professionalisiert, es gab jetzt einen Vorstand, dem mit Klaus Allofs zum ersten Mal ein Sportdirektor, also ein ausgesprochener Fußballexperte angehörte und es gab einen Aufsichtsrat als Kontrollgremium. Lemke ist dann in den Aufsichtsrat gegangen, zunächst als einfaches Mitglied, aber 2004 nach dem Tod von Franz Böhmert wurde er dann auch Aufsichtsratsvorsitzender. Man könnte sagen, aus dem angestellten Manager war jetzt der Kontrolleur geworden, der dem Vorstand auf die Finger gucken musste und aufpasste, dass nicht zu viel Geld ausgegeben wurde. Dieser Rollenwechsel hat ziemlich viele Konflikte mit sich gebracht, die dann 2014 eskaliert sind, als Lemke dem Vorstand die Gelder für einen teuren Transfer verweigert hat. Man muss dazu sagen, Werder hat zu dieser Zeit nicht mehr in der Champions League gespielt und auch nicht mehr im Europapokal, hatte also wesentlich weniger Einnahmen, aber immer noch einen ziemlich teuren Kader. Lemke seinerseits hatte immer das Motto nicht mehr Geld auszugeben als man einnimmt und als er diesem Motto jetzt auch treu bleiben wollte, geriet er unter den Vorwurf den Verein kaputt zu sparen und damit unter ziemlich starken Druck der Öffentlichkeit aber vor allem auch von Intern, also von Teilen des Aufsichtsrates und des Vorstands. Er ist dann schließlich 2014 als Vorsitzender des Aufsichtsrates zurückgetreten. Er ist dann noch zwei Jahre als einfaches Mitglied wieder drin geblieben, aber hat dann zwei Jahre später, also 2016, gar nicht mehr für den Aufsichtsrat kandidiert und anschließend auch nie mehr ein offizielles Amt bei Werder innegehabt.

Jonas Dahm: 
Wäre es fair zu sagen, dass Lemke für eine bestimmte Zeit auch steht, wo sowas noch in einer Person überhaupt funktioniert hat?

Ralf Lorenzen: 
Ja, auf jeden Fall. Also nicht in einer Person, aber in wenigen Personen. Er steht da für diese Zeit vor dem neuen Professionalisierungsschub im Fußball, mit wesentlich größerer und differenzierterer Arbeitsteilung, aber natürlich auch so ein bisschen für so eine Männerbündelei der alten Bundesrepublik, die es ja auch in der Politik und in der Wirtschaft gab und so weiter. Nach dem Motto, eine Hand wäscht die andere. Das waren alles Zeiten, in denen Begriffe wie Compliance oder Governance jetzt noch nicht so eine große Rollegespielt haben, sondern wo gerade in so einer überschaubaren, kleinen Gesellschaft wie Bremen die Geschäfte zwischen den einzelnen Interessensgruppen auf kurzem Wege zu tätigen waren.

Jonas Dahm: 
Die kurzen Wege zeigen sich auch so ein bisschen daran, dass Lemke dann von Werder wieder in die Politik gegangen ist, er war dann Bildungssenator und dann ist er zur UN gegangen. Also dann gab es nochmal einen ziemlichen Karriere-Sprung 2008, da wurde er berufen von Ban Ki-moon zum Sonderberater für Sport im Dienste von Frieden und Entwicklung. Was war denn Lemke typisch an dieser Arbeit? Das ist ja eine ganz andere Aufgabenstellung.

Ralf Lorenzen: 
Also Lemke typisch an dieser Aufgabe war, dass er wieder den Sport gesehen hat als Hebel, als Mittel, um in andere gesellschaftliche Bereiche einzugreifen, um soziale Entwicklungen, wie es auch im Titel heißt, und konfliktlösende Begegnungen herzustellen.

Jonas Dahm: 
Zwischen Politik und Fußball.

Ralf Lorenzen: 
Zwischen Politik und Fußball, aber auch vor allem hat er dann seinen Schwerpunkt, das hatte Ban Ki-moon ihm auch schon sehr stark auf Afrika gelegt, wo Fußball gerade in den ärmeren Gebieten, das beste Beispiel sind die großen Slums in Nairobi, in denen er tätig gewesen ist, tatsächlich der Sport jetzt nicht nur als Sport, sondern wie er es auch in seiner eigenen Kindheit erlebt hat, als Überlebensmittel wichtig gewesen ist. Auch zur Einübung von sozialem Kompetenzen, zur Gewinnung von Selbstbewusstsein in verschiedenen Formen. Was die Rolle von Mädchen und jungen Frauen in diesem Kontext angeht, hat er von vornherein darauf geachtet, dass alle Projekte paritätisch besetzt werden, in denen er ist und er hat dann ein Programm entwickelt, in dem neue Vorbilder geschaffen wurden - also junge Leute, die sich in bestimmten Sportorganisationen in Afrika erste Erfahrungen, auch in Leadership, gemacht hatten. Die wurden von ihm in großen Programmen weitergebildet, um später mal in größeren Organisationen, auch zwischen überstaatlichen Organisationen, tätig zu werden. Das hat er tatsächlich geschafft und diese Verbindung zu diesen Menschen auch gehalten.

Jonas Dahm: 
Und er hat das gemacht, eigentlich aus dieser Lemke-typischen Art und Weise. Also man spricht schnell, man ruft irgendwo an, man organisiert sich zusammen.

Ralf Lorenzen: 
Absolut.

Jonas Dahm: 
Das kommt bei euch auf jeden Fall stark raus.

Ralf Lorenzen: 
Genau, absolut. Er hatte immer den direkten Weg und wenn man ihn nach irgendwas gefragt hat - “Kennst du den und den” - dann hat er sofort sein Handy gezückt. Er war da immer freigebig und hat gesagt, soll ich den oder den mal anrufen. Er hat immer ganz schnell Kontakte hergestellt, auf kurzen Wegen. Aber das ist auch Fluch und Segen zugleich. Also diese Kleinteiligkeit, die hat ihn ja auch als Bildungssenator hier ausgezeichnet, wo er jede Schule wirklich besucht hat, fast, und die kleinen Probleme kannte. Dagegen ist ein bisschen dieses konzeptionelle, strukturelle, teilweise ein bisschen auf der Strecke geblieben, würde ich sagen. Was ja auch dazu geführt hat, dass diese Position des Sonderberaters für Sport und Entwicklung nach ihm nicht weitergeführt wurde,weil er es politisch nicht geschafft hat, den Posten auch in Zusammenarbeit mit anderen Interessenvertretern so wichtig zu machen, dass es nicht mehr ohne den Posten geht. Aber seine Stärke hatte er wirklich immer in der konkreten Aktion.

Jonas Dahm: 
Da ist Lemke ja Bremen-typisch. Ihr schreibt ja auch “Stadt der kurzen Wege” und ihr seid ja auch selber - da würde ich jetzt auch gerne noch mal drauf zu sprechen kommen - ihr seid ja auch freundschaftlich mit Lemke verbunden gewesen. Wie seid ihr damit umgegangen? Wie habt ihr ein Buch geschrieben, was trotzdem objektiv über Lemke berichtet? Wie habt ihr eure eigene Rolle da verstanden?

Ralf Lorenzen: 
Also freundschaftlich - da weiß ich nicht, ob man das so sagen kann. Ich kannte ihn vorher überhaupt nicht. Also von ein, zwei Interviews, das habe ich als Sportreporter gemacht, aber ich hatte nie ein persönliches Gespräch mit ihm geführt. Helmut Hafner kannte ihn aus seiner Zeit im Rathaus natürlich besser, in der er öfter auch mit ihm zu tun hatte und teilweise auch mit ihm zusammengearbeitet hat. Für mich war er erst mal, da ich mich ja auch eher als kritischer Sportjournalist verstehe, jemand, zu dem ich auch eine notwendige Distanz wahre, die ich dann auch hoffentlich, denke ich, durchgehalten habe. Aber natürlich wird einem jemand, wenn man sich vier Jahre oft trifft und kommt man sich nahe und ich habe auch ganz andere Dimensionen seiner Persönlichkeit kennengelernt als die, die ich vorher nur medial wahrgenommen hatte. Da ist er ja immer dieser ‘Willi Wichtig’ gewesen, immer vorne an und so weiter und man denkt, möchtest du mit dem jetzt eigentlich auch mal ein Bier trinken? Und später habe ich gedacht, ach, mit dem könntest du mal echt gut ein Bier trinken! Weil er natürlich auch noch ganz andere Dimensionen und vor allem auch etwas sehr Solidarisches hatte. Und ein offenes Haus hier in Schwachhausen, wo seine ehemaligen Schützlinge aus den Slums in Nairobi ihn später auch immer noch besucht haben. Neulich hat mir nochmal jemand von Werder erzählt: “Willi hat ein offenes Haus für Leute aus aller Welt”. Auch dieser Teil der Persönlichkeit ist uns natürlich dann im Laufe der Zeit näher gekommen und das hat dann auch wirklich Sympathie hergestellt. Freundschaftlich würde ich das jetzt aber noch nicht nennen.

Jonas Dahm: 
Ihr hattet jetzt in Oldenburg noch eine Veranstaltung mit Rudi Völler, wo ihr das Buch noch mal vorgestellt habt, der ist auch noch nach Lemkes Tod. Wie gucken Menschen, die ihn begleitet haben, so wie Völler, auf ihn? Gibt es da eine Sache, wo man sagen kann, das taucht immer wieder auf?

Ralf Lorenzen: 
Der Autor Dietrich Schulze-Marmeling, der renommierte Fußballautor und auch Miteigentümer des Verlages, Edition Einwurf, in dem auch das Buch herausgekommen ist, hat da noch mal skizziert, inwieweit Lemke durch sein Talent, Dinge voranzubringen im Fußball, Werder auch mit zu dem gemacht hat, was Werder heute darstellt. Es ist ja immer noch ein Verein, der eigentlich über seine Möglichkeiten performt gegenüber anderen. Auf diesem Weg dahin war Willi Lemke eine entscheidende Persönlichkeit. Für mich ist wirklich diese letzte Phase seines beruflichen Lebens - die bleibt für mich hängen. Die hat mich auch dazu geführt, dass ich noch zum Beispiel mit Auuma Obama, der Schwester von Barack Obama, über ihn sprechen konnte, die mir noch mal erzählt hat, wie wichtig er gewesen ist für den Lebensweg vieler junger, unterprivilegierter Leute in Afrika. Dass also beides durchaus zusammenkommen kann in einer Person, dieser Kommerz, dieses Gewinnstreben, den ich bis heute eher skeptisch und kritisch sehe, aber auf der anderen Seite auch so eine solidarische Art, Menschen zu fördern und zusammenzubringen.

Jonas Dahm: 
Das Buch ist bei Edition Einwurf erschienen, das klingt jetzt nach einem Fußballverlag, das ist aber nicht so, da gibt es eigentlich eine ganze Bandbreite. 

Ralf Lorenzen: 
Nein, das ist eigentlich ein Sachbuchverlag, der sich um gesellschaftlich, politisch relevante Themen und Bücher bemüht, zu denen dann natürlich auch mal ein Fußballbuch gehören kann. Das steht in der Tradition der Edition Körber, der Körber-Stiftung in Hamburg, die über Jahre sehr viele zeitgeschichtliche Bücher herausgegeben hat und deren Bestand die Edition Einwurf jetzt übernommen hat und der damit ein kleines neues Programm startet. Die erste Veröffentlichung war von Dietrich Schulze-Marmeling zum Antisemitismus in der Linken hier in Deutschland. Es gab bei der Neuverstellung des Verlages auch ein Buch über Totalverweigerung, die Geschichte eines Totalverweigerers, wie er heute zu den Fragen von Krieg und Frieden steht und es gibt ein neues Buch über Fußball, Politik im Spiel, über die politische Geschichte der deutschen Fußballnationalmannschaft. Es ist ein ganz buntes Programm eines sehr kleinen, ambitionierten Verlages hier aus der Nähe in Rastede bei Oldenburg.

Jonas Dahm: 
…und auch euer Buch, da geht es ja nicht nur um Fußball, sondern es geht um Politik und Fußball. “Herr Lemke, übernehmen Sie!” von Ralf Lorenzen, geschrieben mit Helmut Hafner. Lieber Ralf, vielen Dank für das Gespräch!

Ralf Lorenzen: 
Sehr gerne!

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Der Text wurde KI-gestützt transkribiert.