Jayrôme C. Robinet oder Anders sein

Von Jutta Reichelt


In dem Comic Ich begehre Frauen (Edition Moderne 2020) stellt Diane Obomsawin in kurzen Episoden zehn lesbische Frauen vor. Eine von ihnen ist Catherine und das Erste, was wir über sie erfahren, ist: „Ich wusste schon immer, dass ich anders bin.“ Anders sein – das ganz große Thema all derer, die anders leben oder lieben, aussehen oder sich bewegen, denken oder reden. Anders sein. Auch ich kenne das Gefühl, anders zu sein. Aber eher in der etwas ratlosen Variante. Ich habe große Teile meines Lebens das diffuse Gefühl gehabt, dass mit mir auf eine ernsthafte Weise etwas nicht stimmt. Aber was denn? Ich wusste es nicht! Allerdings war ich mir ziemlich sicher, dass es nichts damit zu tun hatte, dass ich Frauen liebte. Oder höchstens am Rand …

Anders sein. Auf eine scheinbar natürliche Weise unterscheiden sich Frauen und Männer voneinander oder Frauen, die Frauen begehren, von Frauen, die Männer begehren oder behinderte Frauen von nichtbehinderten Frauen – so sind wir zu denken gewohnt. Aber sobald wir näher hinsehen, löst sich diese vermeintliche Eindeutigkeit auf und wir entdecken, dass die scheinbar „natürlichen“ Unterschiede ihre Bedeutung erst bekommen, wenn sie kulturell „aufgeladen“ werden. Besonders erfolgreich funktioniert diese Aufladung im Hinblick auf die Unterschiede zwischen den Geschlechtern, die uns oft geradezu zwingend naturgegeben vorkommen. Aber auch unser Geschlecht sind wir weniger, als dass wir es herstellen – durch unser Verhalten, durch unser Tun (Doing Gender!). Aber was bedeutet das konkret? Wie verhalten sich Männer in der Fitnessumkleide oder im Darkroom, auf der Toilette oder bei kurzen Begegnungen auf der Straße? Wie stellen sie ihre Männlichkeit her?

Genau das fragt sich Jayrôme C. Robinet. Er fragt es sich nicht aus einem theoretischen Forschungsinteresse, sondern, weil es für ihn von existentieller Bedeutung ist. Jayrôme C. Robinet muss das komplizierte Spiel von Codes und Ritualen erst lernen, in das andere Männer ein ganzes Leben lang hineinsozialisiert wurden. Von den Erfahrungen, die er dabei gemacht hat, handelt sein Buch Mein Weg von einer weißen Frau zu einem jungen Mann mit Migrationshintergrund. Schon der Titel verrät, dass ihm auf diesem Weg Überraschendes widerfahren ist: Wieso hat er als Mann einen Migrationshintergrund, den er als Frau nicht hatte? Weil auch Unterschiede der Hautfarbe nicht einfach „da“ sind, weil auch sie in unterschiedlichen Kontexten unterschiedliche Bedeutung erhalten: die etwas dunklere Hautfarbe, die Jayrôme seiner italienischen-französischen Herkunft verdankt, wurde als attraktiv-exotisch wahrgenommen, solange er als Frau gelesen wurde, aber nun verwandelt sie ihn in einen jungen Migranten. Einen Migranten, von dem vielleicht sogar Gefahr ausgeht? Aber Jayrôme ist als Mann nicht nur solch abwertenden Reaktionen ausgesetzt, im Gegenteil. Manchmal reicht schon der Griff nach einem Buch oder nach der Süddeutschen, und Jayrôme wird mit einer Freundlichkeit und Aufmerksamkeit behandelt, die er nicht erlebt hat, solange er als Frau wahrgenommen wurde. Einmal hält sogar der ICE unplanmäßig nur für ihn, weil er einen Umstieg verpasst hat und zu spät zu einem Auftritt zu kommen droht.


Es macht den großen Reichtum dieses Buches aus, dass Jayrôme beide (Geschlechter)-Welten kennt und wir ihn bei seinem Eintauchen an unterschiedlichste Orte der Männerwelt begleiten dürfen. Was hier so verkürzt womöglich die Erwartung vor allem absurd-heiterer Episoden aus dem Geschlechterleben weckt, ist (längst) nicht immer komisch, aber (soviel Spoiler nehme ich mir raus) auf Jayrôme (und in der Folge auf uns Leser:innen) warten auch herzerwärmende, berührende Momente und das wunderschöne Happy-End einer grandiosen Liebesgeschichte. 

Geschichten. Lebensgeschichten. Auch davon erzählt das Buch: Von dem besonderen Druck, ja von der Gewalt, unter der manche Menschen ihre individuellen Erlebnisse und Erfahrungen in eine schablonenhafte Form bringen müssen, weil sie ihre Lebensgeschichte als Beweis ihres Unglücks, ihrer (unverschuldeten) Not vorzeigen müssen: „Zum Glück wusste ich ungefähr, welche trans*Biographie von mir erwartet wurde. Inzwischen hatte ich genug dieser „Lebensläufe“ in der trans*Community gesehen: Ich kam im Jahr X als Mädchen auf die Welt. Dass ich im falschen Körper geboren wurde, bemerkte ich sehr früh (…) Als meine Brüste anfingen zu wachsen, brach meine Welt zusammen. Und so weiter. Bei mir stimmte das allerdings nicht so ganz.“

Auch für Lebensgeschichten gilt, dass sie weit mehr, als es uns oft bewusst ist, kulturell eingebettet sind. Wir bestimmen nicht alleine darüber, wir sind nicht ihre alleinigen Autor:innen! Auch andere schreiben daran mit: durch ihre Erwartungen, durch ihre Vorstellungen von dem, was „natürlich“ ist, durch die Narrative, die uns in unserer Kultur jeweils zur Verfügung stehen. Jayrôme C. Robinet unterläuft solche Erwartungen und erzählt seine Geschichte so, wie er sie erlebt hat und ermutigt uns Leser:innen dadurch, das Denken in Kategorien zu überwinden – ganz unabhängig davon, ob und in welcher Weise wir anders sind als andere.

Ich habe die Ratlosigkeit erwähnt, die große Teile meines Lebens geprägt hat. Mir ist im Laufe meines Lebens die Selbstverständlichkeit verloren gegangen, mit der wir gewöhnlich wissen, wie wir zu denen geworden sind, die wir sind: Ohne dass ich es so recht bemerkt hatte, ohne dass ich es verstand, war mir meine Lebensgeschichte abhandengekommen. Das, was ich über mich und meine Vergangenheit zu wissen geglaubt hatte, fiel wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Eine Frau, die an einem Abgrund steht und ihn nicht sieht …

Diese Frau, die ich einmal war, steht dort nicht mehr, bin ich nicht mehr. Es kommt mir manchmal so vor, als habe ich mich selbst aus dem Sumpf gezogen, langsam und mühsam wie Münchhausen in seiner berühmten Lügengeschichte. Allerdings bestand mein Schopf nicht aus Haar(en), sondern aus Geschichten. Geschichten, die mir allmählich halfen, eine Vorstellung davon zu gewinnen, wie es gewesen sein könnte. Ich war nicht auf der Suche nach der Wahrheit, sondern nach einer Möglichkeit. Einer Möglichkeit, wie ich all die unzusammenhängenden, sich widersprechenden Erinnerungen und Eindrücke, über die ich verfügte, zu einer halbwegs stimmigen, halbwegs plausiblen Geschichte zusammenfügen könnte. Dass es mir dann in einer paradox anmutenden Volte mit einem Text über Lebensgeschichtslosigkeit gelungen ist, mir so etwas ähnliches wie eine Lebensgeschichte wieder zusammenzubasteln, verdanke ich nicht zuletzt den zahlreichen Autor:innen, die sich  mit ihrer Klugheit und Genauigkeit, ihrer Ehrlichkeit und Konsequenz in diesen Text eingeschrieben haben.

„Das Schreiben der anderen“: Das ist der Titel dieser kleinen Reihe von Texten über Antje Rávik Strubel, Gunther Geltinger, Daniel Schreiber und Jayrôme C. Robinet, bei der ich mich jeweils auf einen Aspekt, einen Blickwinkel konzentriert habe, der für mein eigenes Schreiben wichtig ist oder mich als Frage, als Thema umtreibt. Wirklich kennenlernen kann man die eingeladenen Autor:innen natürlich nur durch ihre Texte – und Jayrôme C. Robinet und Daniel Schreiber am 17. November im Bremer Wallsaal bei der Veranstaltung Quersprechen.


Porträt von Jutta Reichelt
© Nicolai Wolff

Jutta Reichelt

wurde 1967 geboren und lebt als Schriftstellerin und Geschichtenanstifterin in Bremen. Sie schreibt Romane, Erzählungen, literarische Essays und bloggt Über das Schreiben von Geschichten. Für unterschiedliche Institutionen entwickelt und leitet sie Schreibwerkstätten und -projekte, darunter auch zwei Schulhausromane, die unter ihrer Leitung für das Literaturhaus Bremen entstanden sind. Jutta Reichelt wurde für ihre schriftstellerische Arbeit bereits mehrfach ausgezeichnet, zuletzt 2020 mit dem Projektstipendium der Freien Hansestadt Bremen für die Fertigstellung ihres aktuellen Schreibprojektes mit dem Arbeitstitel Lebensgeschichtslosikeit – eine autobiografische Annäherung.

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